Meine Stunde

Ich weiß nicht, wie’s kam, aber irgendwann stellte ich fest, dass sich da unmerklich ein Ritual eingeschlichen hatte. Als ich sagte: „Ich mach noch kurz meine Runde“, wurde wissend genickt und das Abendbrot stillschweigend um eine Stunde verschoben. Aha.
Und nun ist es so. Wenn nicht höhere oder andere Mächte dazwischenfunken, begebe ich mich jeden Abend auf die Runde. Das Tageswerk ist (vielleicht nicht) vollbracht, (aber) es genügt nun für heute, man schließt ab und i(s)st die restliche Zeit nur noch, um dann friedlich einzuschlummern. In dieser Stimmung bewaffne ich mich mit Getränk und Zigarette und ziehe von dannen.

Zum Beispiel zu meinem Lieblingsplatz. Das ist die immer noch bestehende scheußliche Waschbetontreppe (in Gedanken ist es eine urige Natursteintreppe, überwuchert mit diversen Sonnenkindern) und zwar ihr oberster Treppenabsatz, über dem sich ein inzwischen stabiles Rosenrankgerüst tapfer der beiden immer noch Ilse Krohn Superiors erwehrt. Da setz ich mich dann hin und bin einfach mal. Rieche den frisch-zitronigen Rosenduft der Ilses, spüre die noch warme Strukturstufe unter dem Popo (da drunter stört Hässlichkeit deutlich weniger), streichle ein kleines Moospolster und höre dem Helikopterflüstern der letzten Hummeln, Bienen und anderen Summsumms zu. Zu meiner Rechten und Linken befinden sich die einigermaßen blau-weißen Beete, mir gegenüber die geliebte Feige und und so weiter. Die Kinder der Nachbarn und dieselbigen sind vermutlich am Essen; es ist für einmal herrlich still, nur Schafglöckchen erklingen in der Ferne, unterbrochen von einem ungeduldig krächzenden Eselsessensruf, je nach Wochentag erschallt langes Glockengeläut, Teenie-Spatzen hauen einander motzend auf die Rübe … und da sitz ich und würde am liebsten nur noch da sitzen.

Und gucken. Denn dafür ist die Stunde gedacht. Liegt es an diesem besonderen Licht der blauen Stunde? Oder einfach daran, dass man kurz vorher entschieden hat, die Hände in den Schoß zu legen? Was auch immer die Gründe dafür sein mögen: In diesem Moment kann ich einfach nur gucken. Und wenn ich dabei ein Unkraut erspähe, egal … ich gucke ungerührt, ohne den Impuls, zum todbringenden Werkzeug zu greifen und zwischen die Stauden zu zehenspitzeln, um dem Übeltäter jäh den Garaus zu machen. Ich zupfe höchstens entspannt pflanzlichen Unrat aus den Thymianpolstern, die gerade mal eine halbe Armlänge neben mir rumwursteln. Überhaupt ist das ganze Gucken anders. Tagsüber gehe ich, wann immer es mir möglich ist, durch den Garten, um zu sehen, was sich da (nicht) tut, und gegebenenfalls Lösungen dafür zu finden. Abends sind mir Probleme fern. Da guck ich einfach. Voller Dankbarkeit.

Dankbarkeit darüber, dass ich überhaupt einen Garten habe und mich in ihm breit machen darf. Es ist gut, wenn man nicht alles vergisst. Zum Beispiel, dass es mal eine Zeit gab, in der man aus den Fenstern im fünften Stock entweder auf die dröhnend dicht befahrene Straße oder die düstere Wand des nächsten Blocks geschaut hatte. Niemals werde und will ich vergessen, was ich empfand, als ich in dieses Haus diesen Garten gezogen war: Vergleichbar ist höchstens der Moment, als ich untrüglich gewusst hatte, mich fortan nie mehr mit Mathe rumschlagen zu müssen (was sich später wider Erwarten als trauriger Trugschluss entpuppt hatte, aber das wusste ich damals Glückselige noch nicht). Dankbarkeit auch darüber, dass es hier überhaupt wächst und dazu noch so schön (es ist Abend, da ist alles schön). Und das tut es einfach, obwohl ich dauernd – sehr oft irrend – reinfummle. So zerplatzen all die tagsüberlichen gärtnerischen Sorgen, Nöte, Ängste, Irritationen mit einem deutlich hörbaren „Plopp“.

Das funktioniert auch lustwandelnd. Dafür habe ich mir u.a. sinnigerweise einen Kräutergarten ausgedacht, den man nur meditativ labyrinthig begehen kann (fragt mich nicht, wie oft ich werktagsüber diese ach so tolle Idee vermaledeit hatte). Und meinen einen Gemüsegarten habe ich so mutterbodengeizig angebracht, dass man auf den Haarnadelplatten bloß den „Walk like an Egyptian“ machen kann – solche Yoga-Übungen sind beim Bestellen … eben. In meiner Stunde ist das perfekt. Ich will eh nicht eilig durchhuschen und stör mich drum auch nicht weiter dran. Genauso wenig wie an der einen selbstgemachten Treppe, bei der die durchschnittliche Schrittlänge eines Durchschnittseuropäers doppelt veranlagt wurde. In Slowmotion (und wenn das Getränk schon fast weggetrunken) ist das richtig schön.

Wo war ich gerade? Ja, das gehört auch dazu. Selbstvergessen kann ich durchaus zehn Minuten bloß eine profane, sich von irgendwoher hingesäte Klatschmohnblüte bewundern oder aber das Käfertier, das sich gerade darin verlustiert. Irgendwann wird man sich dessen bewusst, dass man vermutlich einen reichlich seltsamen Eindruck auf die eventuell vorbeigehenden Mitmenschen hinterlässt, weil man dabei unter anderem vergessen hatte, den Mund zu schließen, irgendwann merkt man, – vielleicht – dass die Stunde vermutlich schon seit zwanzig Minuten um ist oder man wird daraufhin gemerkt (hier ist etwas anzuführen – wobei, ich mache das wohl besser erst am Ende dieses Satzes) und beendet dann betört die Runde, um den Abend wirklich ausklingen zu lassen. (Der Satz ist fertig, also: Ich schreibe hier von „meiner Stunde“. Das ist metaphorisch gemeint. Die kann nämlich von einer Viertel- bis zu zwei Stunden dauern. Oder noch länger, kommt halt sehr auf die Stimmung an. Die nickende Person vom ersten Abschnitt ist also mitunter eine leidende.)

Zum Wichtigsten, was ich hier eigentlich sagen wollte, kam ich gar nicht erst. Kein Wunder bei diesem Thema, ich schreibe auch lustwandelnd selbstvergessend. Da ich meine Stunde heute vorgeschoben hatte, bin ich in diesem Moment in der „Huch, aufgemerkt, die Zeit ist vermutlich um“-Situation, denn das Abendessen ruft drängelnd. Deshalb huschrasch: Der – wie eine deutlich jüngere Anverwandte von mir so gerne sagt – Oberburner ist: In dieser vor Dankbarkeit triefenden Entspannungsphase kommen mir mitunter Lösungen in den Sinn zu Problemen, die ich im nüchternen Tageslicht nie als solche erkannt hätte.

Manchmal. Andere manche Male bin ich einfach und auch das ist gut so.

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