Lebensbereiche

Es ist mir, als wär’s gestern gewesen, so gestochen scharf ist die Erinnerung an die Purlerin, die mir gegenüber saß und bei unserem heiteren Hortiplausch beiläufig dieses Wort benutzt hatte. Ich hatte nicht den bleichesten Schimmer, worum es sich dabei hätte handeln können, und versuchte, während ich meinem Gegenüber zuhörte, krampfhaft auf die Schnelle eine sinnige Bedeutung zuzuordnen. Konnte es was mit dem Konzept Der Garten – Ihr erweitertes Wohnzimmer zu tun haben? Damals hatte es gerade begonnen, dass „man“ plötzlich das Gärtnern darauf beschränkte, sich das stylishste Sitz-, Liege- und Tischmobiliar auf den besten Unterlagsmaterialien auszuwählen und diese gewissenhaft zu pflegen. Egal, welche Gartenklatschschrift man öffnete, überall guckten einem irgendwelche Korbhocker, Polypropylensofas, Glastische, Kissen, Teelichtbehälter auf Holzdecks oder Natursteinplatten entgegen und hießen „Lounge“ oder „Wellness-Oase“, Tücher hingen von irgendwo herab und umspielten leise wabernd die Szenerie, eine tiefenentspannte, sehr hübsche Kleinfamilie fläzte adrett da rum, einander glücklich zulächelnd mit selbst gemachtem Gartengrüntee in farbigen Gläsern, und ganz rechts unten, man konnte es gerade noch so erkennen, stand ein Designertopf mit einer zufrieden blühenden Pelargeranie. Lebensbereiche in diesem Sinne konnte ich mir daher durchaus vorstellen: Da werden den Gästen exquisit angerichtete Köstlichkeiten kredenzt; dort – beim Lebensbereich „Naturnähe“ – guckt man den lustig nach Luft schnappenden Kois zu; hier können Jung und Junggeblieben ausgelassen auf dem jährlich neu ausgelegten Rollrasen spielen, toben und tollen; drüben befindet sich der Chefgrillplatz (Lebensbereich „Finde den Mann in dir“); man braucht nicht viel Fantasie.

Oder war es etwa – meiner Treu – ein Feng-Shui-Ding? So was wie der leere, liegende Tontopf, der für mich liebevoll am Gehölzrand platziert worden war, damit Energien flössen? (Sie flossen offensichtlich so gut, dass der Tontopf schon bald darauf zerbarst. Und der zweite, den ich zufälligerweise gefunden hatte, wurde schnöd von mir entfernt, weil ich ihn dafür brauchte, wofür er gedacht war.) Dazu passte der Begriff „Lebensbereich“ wie die schlagende Faust aufs schmerzende Auge: Vitalisierende Energie fließt von Norden oder Beschützende Schwingungen strömen aus dieser Öffnung oder Es mehret sich der Wohlstand, wo ihm Tür und Tor offen stehen. Ich gab’s auf und zu: „Duhu? Sag doch mal, was genau sind denn nu Lebensbereiche?“

Ach so. Aha. Da ging mir aber ein grelles Licht auf, da. „Der Ort, wo Pflanzen am besten wachsen, weil sie die für sie genau richtige Dosis Sonne, Feuchtigkeit und den richtigen Boden inkl. nicht falscher Nachbarn haben“ hatte tatsächlich einen Namen, der mir bislang durch die Lappen gegangen war. Wie praktisch. Immerhin konnte ich nach der Erklärung denken: „Hallo, Wort, schön, dass es dich gibt, du wirst nun offiziell aufgenommen und fortan benutzt.“ Ein paar Jahre zuvor wäre ich immer noch mit treudoofem Blick der Purlerin gegenüber gesessen und hätte weiter gemutmaßt. Das war anno dunnemals nämlich so:

Pflanzen hatte ich nach Blütenfarbe gekauft (man erinnert sich – Blautöne oder halt auch was Weißes), dabei auf das Stecketikett gelinst, ja, schönes Blau, passt, das Plasteteil umgedreht und die Symbole für Analphabeten studiert. Da war eine Sonne drauf (Sonne hat es da hin und wieder. Passt.), die Größenangabe, Blühzeit (Sehr gut. Passt beides.) und ein weiteres Symbol, das sich erst im unten stehenden Fließtext offenbarte (Steingarten. Hm. Beim Jäten in meinem fetten Lehmboden finde ich zig Steine. Passt also auch.) Und dann wunderte ich mich, dass sich diese Veronica prostrata im halbschattigen Nährstoffparadies nach drei Jahren spurlos verabschiedet hatte. Immerhin drei Jahre, ist man da versucht zu sagen. Das arme, misshandelte Ding. Da half es auch nichts, dass ich mir seinen Namen auf Anhieb merken konnte – dank „Veronika, der Lenz ist da“ und gewisser Assoziationen, denen man bloß ein „r“ mehr aufs Auge drücken musste. Es ist leider nur ein Beispiel von vielen, in jeglicher Hinsicht.

Heute habe ich die Lebensbereiche so verinnerlicht, dass es mir in den Zehen kribbelt, wenn dagegen verstoßen wird, außer ich bin diejenige welche. In dem Falle wird die Angelegenheit großmütig unter „Experiment“ eingeschubladet und weiter beobachtet – Pflanzen sind da dankbar; die können in der Regel nicht lesen. Wo wir wieder bei den Analphabeten wären. Ich habe mir, während mir dieser Text in meiner Stunde durch den Kopf schoss, die Sache mit den Stecketiketten etwas genauer überlegt. Wenn man sie zu deuten weiß, sind sie Gold wert. Da reichen einige Symbole, Zahlen und etwas Text, um glücklich zu machen und zu werden. Man ist ja beinah genötigt, sich das bei Menschen vorzustellen. Wie ungemein zweckdienlich fürwahr! Und weil ich Gedanken gerne zu Ende denke, entwarf ich gleich mal eine Etikette für den Menschen, den ich am besten kenne.

Angefangen hat es mit halbschattig, gestockt hat es bei der Blütezeit … wann blüht denn so ein Mensch? Als Blüte, wenn überhaupt, hätte man mich von 19 bis etwa 32 betrachten können. Und als jährlich wiederkehrender Zustand? Mpf. Ok. Nehmen wir den Frühling, da sind alle irgendwie schöner oder denken es wenigstens. Also, mal Pi aus dem Handgelenk geschüttelt: III-V. Die Höhe ist klar, der Pflanzabstand hingegen … grübel … da kommt es schwer auf die Art des Nachbarn an, aber das geht ja numerisch nicht. Gehen wir auf Nummer schlimm-sicher: 350 m. Und das letzte Symbol? „Rabattenstaude“ bietet sich an, das beinhaltet einiges. Und passt mindestens zur Hälfte. Im Winter bin ich meist ein eingezogener Schatten meiner selbst. Der Fließtext ist happig, denn der muss kurz sein – auch alphabetische Käufer wollen sich fix entscheiden und nicht drei Seiten lang lesen. Brechen wir’s über ein wortkarges Knie und sagen: „Einigermaßen gesunde, pflegeleichte, aber bisweilen anstrengende Rabattenstaude, die gerne täglich gedüngt und gewässert wird. Nikotinbrühen beugen Schädlingsbefall vor. Wächst an halbschattigem Ort zufriedenstellend, bildet kompakten Horst. Blüht in nicht vorhersehbaren Farben. Keine Schnittblume. Nicht remontierend. Versamt sich nicht ungebührlich. Bei abgeklärten, ausgewogenen Sträuchern kann der Pflanzabstand verringert werden.“

Ich hätte mich nicht gekauft.