Was bin ich?

Es gibt Momente, in denen man zu zweifeln beginnt. An unserer naturwissenschaftlichen Erklärung dieser Welt. Nichts davon gibt auch nur den kleinsten Hinweis darauf, warum um alles in der Welt eine stattliche Staude im Frühling plötzlich nicht mehr dort wächst, wo man sie letzten Herbst gesetzt hatte. Noch übler: Irgendwie wächst sie gar nirgends mehr. Natürlich denkt man zuvörderst immer an Schnecken, aber bevor die raspeln können, muss erst mal schüchtern was rausgucken. Außerdem sind Gärtner nicht aus Hornspänen – die können Nichtwachsendes oder Nichtvorhandenseiendes von Runtergeraspeltem unterscheiden.

Und so verbrachte ich den gesamten Frühling damit, die verschollene Campanula zu suchen. Gefunden hatte ich sie letztlich in einem bauchigen Topf – welch Erleichterung – und sie gleich darauf ins Beet gesetzt (wer es sich antut und hier regelmäßig mitliest, erinnert sich). Dass eine Pflanze einfach mal so eben verschütt gehen kann, hatte mich zutiefst verstört, sogar noch mehr als die Tatsache, dass ich bis zum obigen Moment keine Ahnung hatte, was da im bauchigen Topf vor sich hin wuchs. Der Seelentrost war darum ein steinepurzelnd großer. Die Welt ließ sich wieder erklären, wie es sich gehört, Gott oder so sei Dank!

Tja. Vorgestern beäugte ich zum zigsten Male die vermeintlich Verschüttete und musste meinem Bauchgefühl Recht geben: Sorry. Eine Campanula ist das nicht, da kann man drehen, langziehen und wenden, wie man möchte. Es hirnte wieder, Erinnerungen ans letzte Jahr ploppten auf, und dann hatte ich’s endlich: Genau. Ich hatte einen Sämling gekriegt, nicht gewusst, wohin, und darum im Topf zwischengeparkt. Adenophora heißt die Dame, und so aus dem Ärmel geschüttelt, tät ich auf confusa tippen (wie überaus stimmig). So weit so überhaupt nicht gut. Sagt mir wo, wo ist die Campanula?

Sollte ich sie dereinst wiederfinden, werde ich getreulich berichten. Bis dahin möchte ich mich zum Adenophora-Phänomen äußern. Als Kind liebte ich die Sendung, in der ein gewisser Robert Lembke einem Rateteam eine Person vorstellte, deren Beruf es nur aufgrund seiner typischen Handbewegung rausfinden musste. Die Person handbewegte also typisch, dann mussten die Rater blickdichte Augenmasken überstreifen, es ertönte ein Gong und für uns Zuschauer wurde die Lösung eingeblendet: „Rindvieh-Besamer“ (ich frage mich gerade, ob eingeblendet wurde, oder ob der Lembke ein Schild hinhielt – letzteres würde die Augenversteckerei erklären … egal). Hui, das war lustig. Ganz besonders dann, wenn das beeindruckend schlaue Rateteam bis zum Schluss keinen Plan hatte.

Schadenfreude rächt sich früher oder später. Inzwischen gehöre ich zum Rateteam, die Handbewegung ist ein Blatt, seltener eine Blüte, im schlimmsten Fall ein Sämling. Außerdem bin ich bei weitem nicht so schlau wie die Herrschaften damals. Gut, eine Ausnahme nebst zwei oder drei Glückstreffern gibt es: Nicht ohne Stolz darf ich hier rumposaunen, dass ich dereinst, allein anhand des botanischen Bestimmungsschlüssels (das höllischste Sudoku ist oberpipifaxig dagegen – Blüten mit 4 grünen Kb. Staubb. 4; Gr.1, mit kurzer, kopfiger oder 2-4teiliger N., etc.) eine Kornrade als solche bestimmt hatte, bevor da was von Blüten zu sehen war. Da hatte ich mir echt ein goldenes Schweinderl verdient. Wie ich finde.

Die güldenste Sau ist und bleibt aber Pur vorbehalten, machen wir uns nix vor. Da stellt jemand ein verwackeltes Schummerbild eines halb erwischten Blattes ein, und spätestens fünf Minuten danach kommt: „Ich meine, das müsste Lycopus europaeus subsp. mollis sein“. Zur fast selben Zeit kommt bereits der nächste Post: „Irgendein Wolfstrapp.“ Und kurz darauf wird dieser ändernd ergänzt: „Hihi, xy, da waren wir ja fast gleichzeitig, grins. Wieder mal, sonnenbrillengrins.“ Und ich sitze da, lese mit dämlich stierem Blick nach und wusste bislang nicht mal, dass Wölfe auch pflanzlich rumtrappen können. Was ich bin? Eindeutig: Ein Pflanzenfindungsloser, in jeglicher Hinsicht. (Gemeint hatte ich die englische Variante, aber überraschenderweise hat das Wort auch auf Deutsch eine zutreffende Bedeutung. Ei, wie schön.)

Und Selbstüberzeugungstäter. Das richtige Herausfinden scheitert bei mir sehr oft daran, dass ich fälschlicherweise davon ausgehe, dieses „Was bin ich“ könne nichts anderes sein, als … eben nicht das, was es ist. Als der erste Klatschmohn bei mir auftauchte, dachte ich allen Ernstes, es handle sich dabei um eine seltsam mutierte Akelei. Weil logisch. Einen halben Meter weiter nämlich wuchsen ganz viele davon, die ich seit zwei Jahren rumsamen ließ, wie sie gerade lustig waren. Wenigstens konnte die mutierte Form nicht lange das Rumpelstilzchen machen, die entlarvende Blüte belehrte mich kurz darauf eines beschämenden Besseren. Die erste Überraschungskartoffel war auch so ein Ding – ich taufte sie damals provisorisch „komisches, vermutlich übles Unkraut“. Es kann nicht sein, was nicht sein darf, bis es größer wird oder halt eben blüht, dann kann plötzlich ganz viel.

So richtig lustig wird’s, wenn man Pflanzen und damit auch Erde aus Fremdgärten kriegt. Solange die Überraschungen (oh, schau, ein Winterling, wie nett! – ach, ein Zaunwindelchen, willkommen im Club) gleich neben der geschenkten Pflanze auftauchen, ist alles im grünen Bereich. Wehe, ein Teil der mitgebrachten Erde gerät irgendwo anders hin, im schlimmsten Fall in einen anderen Topf. Das passiert hinwiederum gerne mal und schon blamiert man sich einmal mehr bis auf die Knochen. Weil man den Sämling bei einem Forumstreffen-Pflanzentausch wieder mal logisch deduziert, also selbstüberzeugerisch falsch, angepriesen hatte. Und sich der Betauschte über das Richtige richtig gefreut hätte. Ähm, das Falsche. Mensch. Einfach über das, was es dann eben nicht war.

Manchmal, wenn ich „Was bin ich?“ geguckt hatte, schloss ich beim Gong ebenfalls die Augen, wartete, bis er zum zweiten Male ertönte und riet dann mit dem melierten Herrn Baumann und der ebensolchen Annette sowieso (an mehr erinnere ich mich nicht mehr) fleißig drauflos. Erraten hatte ich die Klarinettenstimmer, Fernsehantennenausrichter und Nacktschneckenpornoregieassistenten nie. Ein Findungsloses schon damals.

Wie dem auch sei. Ich gehe jetzt weiter die Campanula suchen.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert