Zweiklassengesellschaft

Unser Grundstück ist sehr unglücklich aufgeteilt: Die eine – etwas größere – Hälfte befindet sich da, wo man wohnt, lebt und allgemein ist, die andere eine Etage tiefer: Da, wo jeder alles sieht, außer wir, wenn wir nicht gerade von zu Hause weggehen, nach Hause kommen oder uns bewusst dort runter begeben.

Normale Menschen hätten aus dem für alle einsehbaren Teil ein Paradies geschaffen, würden es permanent unkrautfrei und auch sonst properpotz daherkommen lassen, und den oberen Teil vernachlässigen. Es käme mir durchaus zugute, täte ich das auch – aus mehreren Gründen -, aber ich tu’s halt nicht. Nicht mal wirklich aus Trotz oder Faulheit, sondern weil ich’s nicht sonderlich beglückend finde, wenn langsam passierende Autofahrer belustigt zusehen können, wie ich ungebremst den Hang runterrutsche (so passiert), oder rausgeputzte Sonntagsspaziergänger stirnrunzelnd zu mir schwitzendem und ackerndem Dreckspatz rüberschielen (so passiert – ich habe zurückgerunzelt).

Immerhin eines habe ich gemacht, was prestigestreichelnd daherkommt. Da befindet sich nämlich vor dem Haus und neben dem Parkplatz eine Hügelebene, die dereinst mit Gras unter Wiesenunkräutern bewachsen war. Drumherum ein Meer aus ungepflegtem und überaltertem Cotoneaster, den vor allem die Kinder instinktiv als Müllschlucker interpretiert hatten – da sage noch einer, Geschmack sei nix Angeborenes. Nach drei Jahren Mähen (was mich bekanntlicherweise anpopelt wie sonst was), sinnlosem Elektromäher runtertragen, Kabel neu verlegen, Fluchen und wirklich schlimm Fluchen, fand ich, da müsse was getan werden. Der Cotoneaster war inzwischen weg (tönt jetzt so nach Nebenbei, war aber eines der Größtprojekte, bei denen ich ohne Nichtgärtners Hilfe heute noch verzweifelt dort unten sitzen und vor mich hinheulen würde), der Nichtrasen, anders: die Nichtwiese stierte mich immer noch glotzend an. Ein Sitzplatz? Ja, bitte. Auf dass jeder, der vorbeiläuft (rechts und links bzw. davor und daneben) einem ein Hallo in die Tasse spucken kann. Gestrichen. Ein Eselweideplatz für die etwas weiter entfernte Esel haltende Nachbarin? Höflich und liebevoll strich sie den Vorschlag mit zwei plausiblen Gegenargumenten. Ein überdimensionaler Teich? Klar. Damit möglichst viele Frösche und Molche unter Sommerreifen ihr Ende finden. Mensch.

Schließlich ging das Lichtlein auf. Ein Klosterkräutergarten sollte das werden, streng formal in der Anlage, aber überbordend wild ansonsten. Nach dem Vermessen des Bereichs, dem Entwurf auf Papier und dem handgelenken Ermitteln der Mitte erfolgten die ersten Spatenstiche. Mit Turnschuhen. Danach blieb das Projekt ein fersenlaufendes Weilchen liegen. Das war durchaus in meinem Sinne. Ganz unerwartet gelassen ließ ich Monat um Monat an mir vorbeistreichen und geometerte mich schildkrötenhaft von der Mitte aus Stück für Stück nach außen. So entstand Kleinbeet um Kleinbeet, das nach und nach mit den ersehnten Kräutern und angelesenen Klosterpflanzen bestückt wurde.

Mit jedem Jahr, sprich jedem neuen Kleinbeet, wuchsen auch die freien Pflanzstellen. Dankbar belegte ich die erst mal mit Gemüse, kam letzten Endes aber wegen der Fruchtfolgenöte ins Werweißen. (Ganz abgesehen davon, dass die Gemüse „dort unten“ höchst stiefmütterlich behandelt wurden … also, eigentlich gar nicht. Die Ernte war dementsprechend.) Und so entstand die Zweiklassengesellschaft, der ich erst gestern – in meiner Stunde, selbstvergessen im Wegelabyrinth meines „KGs“ flanierend – so richtig gewahr ward.

Angefangen hatte es damit, dass alles, was nicht in meinen oberen blau-weißen Bereich passte, meine gärtnerische Libido aber unrettbar anstachelte, trotzdem erworben und freudestrahlend in den Kage gesetzt wurde. Da meine Libido offenkundig knauserig wählerisch war (war! möchte ich hier betonen) wandelte es sich schließlich zum Auffanglager. Kompostkandidaten (überzählige Pikierte, Selbstversämlinge oder sich in irgendeiner Form daneben Benehmende); liebevoll fehlgeleitete Grüngeschenke von Nichtgärtnern; Geschöpfe, bei denen ich noch nicht sicher weiß, ob sie wirklich das Gelbe vom Ei sind, und Lebensbereichsexperimente fanden und finden da ihr mitunter etwas beengtes Plätzchen. Außerdem lass ich es dort unten mit strenger Milde blackboxen und das, bevor ich wusste, dass man dem so sagt.

A propos. Blackbox Gardening war das Oberkonzept meiner Oma. Ich stelle mir gerade vor, wie sie reagiert hätte, hätte ich ihr das verklickert:
„Weißt du, Oma, dass du echt in bist?“
„In was?“
„Vergiss in. Supermodern bist du.“
„Wer. Ich?“
„Das, was du im Garten machst, nennt man Blackbox Gardening. Ist gerade der letzte Schrei.“
Kopfschüttelnd wäre sie davongewatschelt, hätte, wie immer, einem Akeleiensamenstand einen liebevollen samenrasselnden Klaps gegeben und sich gefragt, was Bläckboggsgartending wohl heißen könnte.

Zurück zum Thema. Flanierend streifte ich dahin und begutachtete das multikulturelle Lager. Einmal wieder blieb ich vor dem Teufelsabbiss stehen und fragte mich, warum ich den nicht oben habe. Ich mein, schon allein des Namens wegen, aber ansonsten auch sonst. Ein ganz erfreuliches Schmuckstück, das hier unten im Hochebenental der Vergessenheit darbt? Grübelnd knetete ich mit Daumen und Zeigefinger an meiner Unterlippe rum, guckte nach Lösung suchend umher, streifte dabei rosa Physostegias (oh, ihr Lieben), den mickernden Rhabarber (jetzt nimm dich mal zusammen, noch mehr Kompost kriegste dieses Jahr nicht), schwarze Stockrosen (hallo, ihr Schönen), die Crambe maritima (Herzeleinfreu), die wild blackboxende Verbena officinalis (nur weiter so) und noch ein paar andere. Also eigentlich ist es hier unten ganz schön, oder?

Ist es. In einem meiner schwachen, weil ungeschönt selbstkritischen, Momenten flüsterte ich meinem Nichtgärtner zögerlich ins Ohr: „Guck mal in den KG. Der sieht fast schöner aus als meine Prunkbeete oben.“ Kaum hatte ich’s gesagt, verwarf ich es gedanklich wieder. Bitte. Oben werden mindestens 70% meiner Aufmerksamkeit, Jäterei, Kompostgaben, Tüddelstreicheleinheiten und Gestaltungshochlichte angediehen.
Nichtgärtner überblickte kurz die Lage dort unten und erwiderte dann zögerlos: „Nö. Nicht fast.“

Mist.