Kleine Aster

Ich mochte ihn nie sonderlich und verdrehte schon die Augen, kaum waren seine lustlosen, schlurfenden Schritte zu erahnen. Der Herbst hielt mir auf seiner rostenden Platte nur negative Assoziationen unter die Nase und dies, seit ich Sechskäsehoch war: Nicht mehr barfuß zur Schule, dafür juckende Strumpfhosen. Keine Open-Airs, kein Sonnenbaden, depressive Melancholie, der Morgen blieb immer länger dunkel, der Nachmittag wurde es immer früher. Das eine Stundengeschenk konnte da nix rausreißen, im Gegenteil, denn das war nur deswegen erfunden worden, damit wir diese Unzeit einigermaßen überstehen wollen. Es nieselte einem zermürbend ins Hirn, man erinnerte sich zähneknirschend an Winterpneus und schlängelte sich drei Monate zu früh durch das Weihnachtsdeko-Angebot vor der Kasse. Die Blätter fielen, an den Schuhsohlen klebte hartnäckig Dreck, das einzig ersichtlich Blühende waren diese unsäglich doofen Astern, die ich auf den Tod, den sie verkündeten, nicht ausstehen konnte.

Und dann kam der Garten.
Und mein Gartentagebuch. Blättere ich weit zurück und lese unter den Stichworten September bis November, findet sich ein jährlich wiederkehrendes Staunen. Geistig hatte ich mit der Saison bereits abgeschlossen, während meine Pflanzen nichts davon wissen wollten und unbeirrt weiter machten, als endeten keine Monate auf –er.
Es ist ein Gerücht, dass Gärtner Gärten gestalten. (Wenn auch ein verzeihliches. Wir dachten schließlich auch einige Monate lang, die Sonne würde sich um uns im Besonderen und die Erde im Allgemeinen drehen.)

Inzwischen drehe ich mich kugelrund um die Sonne und liebe den Herbst. Vergöttere ihn gar. Ganz besonders, wenn er auf laut sichtbaren Nebelsohlen daherhüpft. Anders als seine drei Brüder beginnt er von heute auf morgen. Das mag vielleicht nicht den ehernen Tatsachen entsprechen, mir kommt es aber jedesmal genauso vor. Es gibt den Tag X, an dem ich verwundert ping-pong-blicke und jedem potenziellen Ansprechobjekt in meiner Nähe (in Ermangelung eines Menschen oder Tieres kann da durchaus ein Sonnenschirmständer herhalten) verkünde: „Ei. Nun ist es Herbst. …“, während es innerlich und äußerlich frohlockt. Genau. Frohlockt.

Was habe ich die Nase voll vom Sommer. Ich riskiere nun einen Aufschrei des Entsetzens beim mitteleuropäischen Durchschnittsbürger (zu dem ich auch gehöre … ich schreie also an dieser Stelle repräsentative kurz auf), aber da muss ich durch. Ich mag ihn nicht. Es beginnt schon damit, dass er in den letzten Jahren entweder gar keiner ist oder aber dergestalt apokalyptisch daherkommt, dass übers ganze Land ein stetes jammerndes Wehklagenslüftchen streift. Aber auch, wenn er sich gesittet benimmt und normal dahersommert, … mpf. Man werfe mir das nicht vor, ich kann nichts dafür, liegt es doch an meinem mangelhaft entwickelten Betriebssystem. Bis 25 Grad Außentemperatur schnurrt das Motörchen anständig, nur ein popliges Grad darüber ist verheerend. Da ich wesens- und berufsbedingt ein zu Schnurrendes bin, kann man sich ein ungefähres Bild davon machen, wie es Nick bei 36 Grad ergeht.
Wie einem Kopfsalat:
Nicht gut.

Dem nicht genug. Wenn man zu der benachteiligten Minderheit gehört, die einerseits neun Stunden Schlaf benötigt, andererseits aber schon bei knackigster Vormorgenröte aus dem Bette springt, könnt ihr euch selber ausrechnen, was ich von verführerisch-lauen Sommernächten halte.

Augenringig wanke ich also durch die Sommerhitze und versuche, mich an den Beeten zu laben. Die unbarmherzigen Strahlen treffen gleißend auf Blätter und Blüten, angestrengt kneife ich meine Augen zusammen, versuche in dem flirrend überbelichteten Wirrwarr etwas zu erkennen, schleppe mich resigniert zum Wasseranschluss, halte den Schlauch über meinen Kopf, dreh voll auf, setz mich in den Schatten und beschäftige mich die folgenden Minuten damit, Wassertropfen wegzublinzeln. Nö. Den mag ich nicht, den Sommer. Da können mir noch tausend Lieder von Kornfeldern oder von der Sonne, die’s gewusst hatte, vorgedudelt werden.

Und dann kommt der Herbst. Wie immer, genau zur richtigen Zeit (gerade hör ich ein Krunsch-Knirsch-Knaschper und gucke nach, woher das Geräusch kommt … wie passend. Mein kleinster Hund hat sich eine unreife Feige gepflückt und mampft selbstvergessen vor sich hin. Hielte ich ihm ein Mikro vor die Nase und täte ihn fragen, welches seine Lieblingsjahreszeit ist, tät er dran rumschnuppern. Ich würde das dann mal keck als „Herbst“ interpretieren.), erlöst er mich. Von heute auf morgen. Genau dann, wenn die Gartenleidenschaft zu erlahmen beginnt, wenn ich mir sage: „Nu, das könnte man an und für sich eigentlich vielleicht und eventuell auch aufs nächste Jahr verschieben“, dann wallt beim Morgenkaffee-Brauen der erste richtige Herbstnebel herbei. Es hüpft das Herz schon vor dem Koffein und ist froh: Dank dir Gott oder wer auch immer du bist.

Und dann kommt die Phase des glücklichen Erlahmens. Wo ich vorher gehetzt durch die Gartengegend wuselte (sofern es die Temperaturen zuließen), schlendere ich nun gemächlich und lass mir Zeit. Genauso wie die Natur. Wie auf Kommando wächst alles einen Ticken langsamer, oh Freude seliger Müßiggang! In Zeitlupentempo wandle ich im Garten, guck da, guck dort, meinen von der Sommersonne entzündeten Augen ist das milde Liebeleinlicht Balsam. Und Erkenntnis. Wo sich vorher eine flirrende Grüntönemasse in die Pupille einbrannte, erspähe ich Ungewünschtes. „Sofort raus damit“, brodelt es in irgendeinem Temporallappen, „ach, lass mal, das hat Zeit“, erwidert es auch etwa dort. Dem Herbst gehorchend lass ich’s bleiben und fühl mich urig wohl dabei.

Pastellig umgibt er mich. Nachgiebig. Ohne Erwartungen. „Meine Stunde“ wird zu „meine mehr als eine Stunde“, selbstvergessen durchstreife ich meinen Garten wieder, wieder, wieder, ohne Felco, ohne Unkrautstecher, beide Hände in der Hosentasche oder sündig beschäftigt (schämt euch, wenn ihr Schlimmes denkt) und jäh erwacht es wieder, das lodernde Gartenfieber. Dem experimentellen Lebensbereich-Aconitum da gefällt es ganz und gar nicht. Der muss weg und anderswo hin. Am besten jetzt. Oder überjetzt. Jedenfalls nächstens. Aber was an seiner Stelle?

Gestärkt durch die längeren Schlafphasen, milderen Temperaturen und auferstandene Leidenschaft hoppelte ich von Gartenteil zu Gartenteil und fragte schließlich meinen Nichtgärtner. Das tue ich immer, wenn ich mir selber nicht traue bzw. ideenlos in der Weltgeschichte rumirre. Kommt dem loriotschen „Das Blaue mit den Schößchen“ sehr nahe. (Es wäre nun wirklich mal an der Zeit, allen geplagten Nichtgärtnern auf dieser Welt eine Hymne zu jodeln … wenn ich das in steter Regelmäßigkeit anführe, wird es sich irgendwann erübrigen.) Er meinte also: „Da!“ und ich pflanzte fast da, aber eigentlich dort. Das mit dem „Was pflanz ich an seiner Stelle?“ war ein klassisches Missverständnis. Ich zeigte von der Küche auf den Klosterkräutergarten und meinte: „Das da. Das würde doch perfekt die Lücke füllen.“ Nichtgärtner fand es reichlich daneben. Zu groß, zu violett, zu daneben. Violett? Er meinte die Dahlie „Tomo“, ich meinte die kleinblütige weiße Aster.

Und so fand die kleine, weiße Aster ihren Platz bei den anderen … Astern.

 

Gewidmet dem Herbst, der Gartenlust
und
Gottfried Benn