Wurzeln

Wenn man sich täglich mit Wurzeln beschäftigt, klopfen früher oder später Gedanken über die eigenen an. Gerne öffne ich ihnen die Tür und lass sie mich begleiten, während ich Laub reche, Quecken zwischen Hainbuchen rausfummle, möglichst schwerelos über die regenwurmverkotete Rasenfläche zu tippeln versuche, endlich die Meerzwiebel eintopfe, an den letzten Rhapsody-Blüten schnuppere, den Velociraptoren dabei zusehe, wie sie Salvia-verticillata-Samenstände plündern, die unzähligen Triebe meiner Eupatorium-rugosum-„Chocolate“-Hecke an Ort und Stelle kleinschnibble (und es schade finde, dass ich sie nicht stehen lassen kann, kann ich aber nicht), mich zwischendurch unter die Wisteria setze, nach oben äugend und mich fragend, wann sie gedenken möge, sich ihres Laubs zu entledigen.

In welchem Substrat wurzelt diese entrückt-verrückte Obsession, die mich an einem nieselneblig verhangenen Untag an die frische Luft zieht? Gibt es einen grünen Urknall, eine gärtnerische Epiphanie, anders gesagt: einen Grund dafür? Die Antwort berückt, weil sie gefällt: Natürlich.

Nun hat jeder von uns seinen eigenen Grund, und weil der zehenkräuselnd spannend ist, gibt es, so glaube ich meinen zu wissen, auch einen eigenen Pur-Thread dazu. Es erinnert sich dunkel in mir, dass andere Obsessive darüber schrieben, wie sie zum Gärtnern kamen. Weniger dunkel denke ich mich zu erinnern, dass viele dabei entweder ihre Oma oder aber den Opa genannt hatten. Ich bin eine von denen.

In meinem Fall waren es die Omas. Die eine lebte mehrere hundert Kilometer entfernt von mir, die andere so nah entfernt, dass sie zu meiner Zweitmama wurde, meiner „Omama“ eben. Beiden eigen war etwas, was es eigentlich gar nicht gibt: ein grüner Daumen. Für mich der Unausdruck des letzten und diesigen Jahrhunderts. Jeder, der zu faul ist, seine Zimmerpflanzen mindestens zweiwöchentlich zu gießen, grinst schulterzuckend dämlich daher und meint: „Ich hab halt nicht den grünen Daumen.“ Als ob es einer göttlich-musigen Inspiration bedürfte, die pflanzlich geringen Bedürfnisse zu befriedigen. Nein. Die sind schlicht zu faul, die Gießkanne in die Hand zu nehmen oder aber rauszufinden, was denn Pflanze XY lieber hätte. „Die Päonien kommen da im wurzeltrocken-sauren Vollschatten nicht so recht. Vielleicht habe ich einfach zu wenig Dünger gegeben.“ Kein grüner Daumen. Pfff.
Nichtsdestotrotz, obwohl ich mich mit allen gesträubten Nacken- und sonstigen Haaren dagegen wehre … meine Omas hatten den. Die konnten einen Steckling nur ansehen und schon wurzelte der, egal ob inter- oder nodial geschnitten, abgerupft, liegen gelassen oder sonstwie misshandelt. Überall im etwas verlotterten Haushalt (uff – mein Nicht-Haushalter-Gen wäre damit zweifach erklärt) standen diverse Behältnisse mit mehr oder weniger, aber immer mit sehr wurzelnden Ablegern drin, die – vielleicht – irgendwann eingetopft wurden.
Ihre Zimmerpflanzen standen in viel zu kleinen Tontöpfen, die mit einer imposant dicken Kalkkruste versehen waren, wurden nie gedüngt, nie umgetopft, und doch wucherten sie knallgesund die Wohn- und Esszimmer zu.
Ja, der grüne Daumen ist etwas irreführend; zwei grüne Unterarme mit Händen dran träfe es eher.

Bei meiner weit weg Oma erlebte ich, wie Gemüse auch ginge. Nie, egal wie lange ich bei ihr zu Besuch war, sah ich sie ernsthaft im Gemüsegarten arbeiten. Aber täglich konnte ich zu den schmal und eng bemessenen Reihen pilgern, fetteste, gesündeste, schmackhafteste Karotten rausziehen, sie unter dem Handpumpen-Brunnen waschen und mir die Milchzähne daran ausbeißen. Oder Gurken. Oder Karotten. Da wuchs definitiv noch anderes, aber was willst du – Milchzähnestöpsel haben einen beschränkten Horizont. Nicht nur lukullisch.

Leider hatte meine Omama keinen Gemüsegarten mehr, dummerweise hüpfte ich diesbezüglich ein paar wenige Jahre zu spät auf die Welt. Aber sie hatte die Unterarme. Und Kakteen. Die einzige Liebhaberei, die sie mir nicht vererbt hat. Überall, wo auch nur der kleinste Südplatz vorhanden war, standen Töpfe voller fies stachliger Dinger, die alle taten, wonach sich Liebhaber sehnen: Sie blühten. Auch die einen, die es nur alle paar Jahre tun und das netterweise auch noch dann, wenn man schon längst in den Pfühlen ratzt. Stolz wie Bolle war meine Omama, als sie mir beim Frühstück erzählte, dass die eine Königin der Nacht (jetzt wisst ihr, warum ich die Tulpen ums Verrecken haben musste) in der letzten geblüht hatte. Zu verschlafen war ich noch, um ihr böse zu sein, und schluckte brav mitsamt dem dick bestrichenen Zwetschgenmarmeladenbrot (aus dem eigenen Garten, die Zwetschgen) den Satz „Kinder haben in der Nacht zu schlafen. Das ist halt so“, und begnügte mich einen Monat später mit dem verwackelten Blitzfoto.

Ihr Garten und ihr Gärtnern waren es letztlich, die mich prägten. Ewig lange und oft saß ich vor dem Regal mit den unterschiedlichen Schraubgläsern, alle mehr oder weniger krakelig beschriftet, und bestaunte die ungereinigte Samenwunderwelt. Es befand sich in ihrem Heiligtum, ihrer ureigenen ungeheizten Unterwelt, wo sie nicht nur Samenschätze aufbewahrt hatte, sondern ihre Kunstwerke entstehen ließ. Sie hatte ihre eigene Technik mit akkurat geschnittenen, hinterglasbemalten Scherben, mit denen sie auf einem mir unbekannten (ähnlich einer Meringue-Masse), je nach Motiv farblich passend bemalten Untergrund riesige Bilder fertigte, die mir den Atem raubten.
Leider habe ich nie bewusst mitbekommen, dass diese Schraubglaswunder ausgesät wurden, aber so, wie ich Omama kannte, hatte sie einfach eine Handvoll irgendwohin geschmissen und an diesem vermutlich auch noch lebensbereichisch völlig untypischen Irgendwohin keimten und gediehen dann 90%.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was von meiner Erinnerung durchs Milchglas des kleinen Stöpsels, der ich war, verfälscht ist, aber was ich ganz bestimmt weiß, ist, dass Oma einen Rosmarienbaum hatte. In einer Klimazone, in der er nach spätestens zwei Jahren die Triebe hätte strecken müssen. Gut, ein Baum war das nur von meiner damaligen Perspektive aus, aber der Rosmarin überragte mich lockerst und er war auch noch da, als ich neunzehn wurde. Ob er mich auch da überragt hatte, vermag ich nicht mehr zu sagen; mein Hauptinteresse betraf zu der Zeit eher Menschliches. Viel, viel später, als mich seltsamerweise plötzlich vor allem Pflanzliches interessierte, las ich von einer tradierten englischen Überzeugung: Wo der Rosmarin gut wächst, haben die Frauen die Hosen an. Darum hätten – ich hoffe, es ist nicht nur Sage – gewisse Ehemänner des Nachts die Wurzeln der zu proper gedeihenden Sträucher gekappt. Mein Opa wusste offensichtlich nichts davon. Mein Nicht-Gärtner braucht es nicht zu wissen. Ich habe bisher im Freiland nur drei Jahre hingekriegt. Den Rest erledigten die nicht-tradiert nicht-englischen Winter.

Diese beiden Männer in meinem Leben (Nichtgärtner und ebenso Opa) haben eines gemeinsam: Sie litten/leiden nicht wenig unter ihren obsessiven Partnerinnen. Meine Großeltern reisten gerne und viel, und es gab keine Reise, bei der Omama nicht mindestens einen Fünftel ihres Gepäcks voll mit Stecklingen und Samen nach Hause schleppte. Für Opa oft ein ärgerlicher Anlass, sich gehörig aufregen zu müssen, vor allem über deren Beschaffung. Kichernd erzählte sie mir, wie sie in Venedig eine abgöttisch herrliche Pelargonie entdeckt hatte und ihren Mann darum bat, die Reisegruppe bitte ein Minütchen oder so aufzuhalten, damit sie verstohlen und geschickt die besten Triebe erspähen und abreißen könnte. „Wir sind auf dem Markusplatz, sowas darf man nicht!“ hat er anscheinend hochroten Kopfes ausgerufen. Gelassen erspähte sie, riss ab, er polterte immer noch, und einmal mehr mussten sie der Reisegruppe nachrennen.
Ich sag nur: Rosmarin.

Gehe ich in meiner Stunde durch den Garten, grüße ich Omama allenthalben. Die Jungfern im Grünen, Akeleien, Primeln, Vexiernelken und ganz zuvörderst Iris, ihre Lieblingspflanze, wachsen nur deshalb, weil es sie gab. Ja, sie würden auch sonst wachsen, aber erstmalig gesetzt hatte ich sie aus purer Nostalgie. Was gäbe ich darum, könnte ich mit ihr durch meinen Garten gehen, meine Samenwundertüten mit ihr zusammen bestaunen, sie vor Freude jauchzen hören beim Anblick der Cyclamenhübschblätter – die sie, so glaube ich, aber man irrt da gerne mal, nicht hatte -, sie löchern nach ihren Tricks und Kniffen, zusehen, wie sie mit den Velociraptoren plaudert, als wären es ihre beiden Landschildkröten Josef und Josefine, und für sie ihren „Zucker mit etwas Kaffee und Milch“-Kaffee kredenzen.

Wie oft versuchte ich mich an ihren Garten zu erinnern, ging in Gedanken die Wege durch, die ich hüpfend oder träumend tausende Male beschritten hatte. Doch rechts und links davon bleibt es ein verschwommenes Wirrwarr, in dem hin und wieder Walderdbeeren aufploppen, Pfefferminze, ein Essigbaum, eine Lärche und die oben genannten Pflanzen. Aber da war doch viel, viel mehr. Was genau hatte dieser Garten, was wuchs in ihm, das in mir den Funken entzündete und mich schon im Kinderzimmer dazu verleitet hatte, alle Stellflächen mit Pflanzen zu bestücken, zu stecken und auszusäen?
Vermutlich das einzig Entscheidende: Einen Menschen, der ihn liebte (und der auch immer dreckige Fingernägel hatte. Außer, er ging aus.).

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