Murmel

Würde man mir mit vorgehaltener Waffe und hervorgezischt zwischen drohend gebleckten Zähnen die ultimative Wahl anheimstellen: „Nur eines im Garten darfst du behalten, der Rest wird dem Erdboden gleichgemacht. Kannst du dich nicht entscheiden, verlierst du alles!“, dann wäre meine erste Reaktion wohl eine verdutzte. Wer kommt schon auf so eine hirnrissige, ins Leere führende Drohung? Andererseits hätte ich für die Ergründung dieser Frage weder die grübelnde Zeit noch die ausreichend stählernen Nerven. Die Hände tät ich in die Höhe reißen und mit dem passenden Zeigefinger nach oben weisend stammeln: „Den Murmel, wenn’s recht ist, bitte sehr.“

(Nein, tät ich nicht. Neugierig und treudoof würde ich die Hände hochreißen, um dann mit großen Augen zu meinen: „Hä?“ Da es sich bei vorliegendem Bedroher aber offensichtlich um ein extrem verstört neurotisches Wesen handelt, wäre dies vermutlich nicht nur mein, sondern auch meines Gartens Ende. Zum Glück ist dies alles nur erfunden. Zurück zu Murmel.)

Jetzt im Nachhinein finde ich die Entscheidung suboptimal, aber was wollt ihr, ich stand unter Druck und reagierte irrational-unterbewusst, da haut man gerne mal daneben. Gleichwohl, auch wenn ich viel Zeit gehabt hätte, hätte ich vermutlich trotzdem den suboptimalen Murmel gemurmelt. (Kann es sein, dass ihr euch in diesem Moment gerade dieselbe Frage stellt? Nämlich, was das Eine wäre, das ihr in so einer Situation wählen würdet? Wenn nicht, dann wäre jetzt die beste Gelegenheit.)

Die Sache ist halt die. „Das Eine“ wächst nicht in meinem Garten. Anders gesagt: Mein Garten setzt sich aus zahlreichen Einen zusammen, die mir alle gleich lieb und teuer sind (und aus zahlreichen Anderen, über deren Verlust ich mich nur ansatzweise grämen täte). Da mir die Zeit fehlte, mir darüber im Klaren zu werden, welches Gewächs denn nun ohne Wenn und Aber am ehesten auserkoren werden sollte, wählte ich halt die Seele meines Gartens: Der Murmel ist der zweitgeborene meiner Komposthaufen. (Den ersten und dritten kann ich hier aus anonymen Datenschutzgründen leider nicht nennen und irgendwelche Namen erfinden mag ich nicht. Hätte ich können, dann hätte ich – aus verständlich sentimentalen Gründen – den Erstgeborenen gewählt, ist ja klar.)
Allein, dass ich meine Komposthaufen bzw. –mieten getauft hatte, sagt eigentlich schon alles.

Begonnen hatte das Ganze anders, nämlich eher lieblos-pragmatisch. Ich wusste zwar, dass transformierte Pflanzenabfälle ganz nützlich für den Gärtner sind – immerhin hatte ich mal meine Primarschulfrühlingsferien damit verbracht, bei einem Gärtner nicht nur Tagetes zu pikieren, sondern auch schubkarrenweise Kompost in den Sterilisierungsofen zu schütten – gleichwohl dienten mir die ersten zwei Rundgitter eher als bequeme und kostenlose Grünabfallentsorgung. Darüberhinaus kam mein angeborenes Talent hinzu, fast alles nicht nur gründlich, sondern auch gewissenhaft falsch zu machen. Als ich nach einem Jahr dem einen Kompostzylinder unter den Rock guckte, lief mir zur Hälfte eine schleimig-stinkige, schlonzige Masse entgegen, der stänglige Rest bockte widerspenstig in der Luft rum. Super. Zum dreihundertsten Mal las ich: „Der Kompost darf nicht zu trocken sein, sonst läuft nix. Wenn er zu feucht ist, dann verfault die Chose.“ Dass beides zur selben Zeit passieren kann, in verschiedenen Etagen wohlgemerkt, davon wollte niemand was wissen, weil es vermutlich nur mir Kompostdämel passieren konnte.

Nun ja. Der nächste Versuch war ein Thermokomposter, das Blättern in noch mehr Büchern und das strikte Befolgen aller hochherrschaftlichen Vererdungslehren. Das Resultat war ernüchternd, weil nur zögerlich nicht dasselbe wie vorher. „Donnerknispel“, dachte es in mir, „das kann doch nicht sein, das kriegste doch hin!“ Ich warf die Bücher und den Thermoplastebehälter in die Ecke (nur metaphorisch – ich würde nie im Leben ein Buch irgendwohin werfen), behändigte mich des gesunden Menschenverstandes, funktionierte die nutzlose, weil unbenutzte Hundebespaßungsecke in einen Von-und-zu-Kompostplatz um, kaufte Holzbretter und akkuschraubte den kubikmetrigen Erstgeborenenen. Damit es auch wirklich klappte, wurde aus dem Ding rein gedanklich ein Lebewesen gemacht, besser noch: Ein Haustier. Haustiere haben für gewöhnlich Namen, also wurde rituell getauft. Von nun an ging ich nicht irgendwelche Abfälle im Kompost entsorgen, nein, ich ging zum X und gab ihm „Hamahama“.

Mir ist selbstverständlich bewusst, wie das rüberkommt. Klar, ich hab einen an der Murmel, aber der Erfolg gibt mir recht. Platte Regelbefolgung ist nicht dasselbe wie: „Mh. Wenn ich ihm jetzt zu viel N gebe, dann rülpst und furzt er untentwegt, der Arme, geb ich ihm zu viel C, dann verhärmt er und kriegt böse Falten. Und der freut sich doch, wenn ich ihm von ganz viel Verschiedenem gerade so viel gebe, dass er sich nicht gleich überfrisst.“ Der Erstgeborene fraß, verdaute und gedieh prächtig. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er einen Bruder bekommen sollte. Schon allein wegen der Futtermengen, die ein einziger Kompostmieterich alleine nie bewältigen kann. Kurz, inzwischen sind es auf dem Kompostplatz drei Mieten Brüder und ein bisschen weiter weg steht noch ein vierter, der keinen fantasievollen Namen kriegte, weil er nur Laub verdaut, plastethermisch daherkommt und darum schnöd „Laubkomposter“ heißt.

Dies alles vermag noch nicht zu erklären, warum ich bei der Eingangsfrage den stellvertretenden Murmel wählte. Und erklären muss man diese innige Verbundenheit offensichtlich. Dies merkte ich spätestens an der Reaktion unserer Besucher, denen ich bei Gartenführungen immer entweder zuerst oder – als Sahnehäubchen – zuletzt den Kompostplatz präsentiert hatte, mit großzügiger Armbewegung und feierlich verkündend: „Da! Ist das nicht der Wahnsinn?“ Leicht betretenes Schweigen und gespielt höfliches Interesse, kulminierend in „Aha.“ deuteten leise darauf hin, dass ich irgendwie nicht so recht verstanden wurde, was andererseits irgendwie ich nicht verstehen konnte. In Fremdgärten frage ich schließlich immer nach dem Kompostplatz, hüpfe auf dem Weg dahin aufgeregt der fremdgärtnernden Person hinterher, in der hibbeligen Vorfreude, gleich das mehr oder weniger große Kleinod in Augenschein nehmen zu können, fragelöchere nach dem Kompostverhalten und einem eventuellen Taufnamen.
„Ich glaub, ich krieg die Tür nicht zu“, dachte ich, als ich bei so einem Anlass zum ersten Mal einen gartenbesitzenden Menschen antraf, der aus eigenem Antrieb, bewusst und entschieden ohne eigenen Kompost leben wollte.

Neben der schrulligen Idee, meine Mieten mit Namen zu versehen, habe ich die noch schrulligere Angewohnheit, den fertigen Kompost nicht etwa effizient und zeitsparend mit Hilfe einer Schaufel und eines gerahmten, aufstellbaren Kompostgitters zu sieben (obwohl ich so eines von der besten Schwiegermutter aller Zeiten geschenkt gekriegt hatte – ein Erbstück, wohlgemerkt!). Nein, da wird liebevollst händisch ausgelesen – das Krümelige in den Eimer, das Grobe auf die andere Miete – und sich dabei ganz viel Zeit gelassen inklusive physiotherapeutisch schweinischer Körperhaltung. Hingebungsvoll zerdrücke ich einen Klumpen und entdecke dabei eine nur leicht verrottete Avocadoschale, lege beim Graben ein Nest aus Kürbiskernen frei, ziehe an einer dünnen Rute, ziehe, ziehe und schmunzle … einmal mehr zu faul gewesen, den Weidenschnitt zu zerkleinern, stoße auf etwas Festes, lege frei und finde die fünfte Handschaufel wieder, verdrehe die Augen ob einer munter austreibenden Muscari-Zwiebel, und betrachte ein durchlöchertes Irisrhizom von ganz Nahem.
Es ist eine Mischung aus meditativer Versunkenheit und Schatzgraberei, die ich noch viel mehr genießen kann, seit ich Velociraptoren habe. Wenn es jemanden auf diesem Erdenrund gibt, der diese selbe Faszination mit mir teilt und sie versteht, dann sind das Hühner. Und so steh ich gebückt an der Miete, ein Huhn auf meinem Rücken, mindestens eines direkt neben meinen grübelnden Händen und das Letzte auf dem obersten Mietenbrett. Jede meiner Bewegungen wird penibelst verfolgt und kaum zeigt sich ein Wurm, eine Assel, ein Tausendfüßerchen, ist die lukullische Freude groß. Mitunter wird kräftig mitgeholfen und gescharrt, was das Zeug hält, Kompostpartikel in meinen Haaren werden liebevoll raus- und eine dreiste Konkurrentin weggepickt, es wird von beiden Seiten geguckert, -plaudert und -kichert.
Und immer wieder stoße ich beide Hände tief hinein, fülle sie mit dem schwarzen Gold und drücke meine Nase rein. Es riecht nach Heimat, nach Kindheit, nach den vielen Stunden, in denen ich im Wald rumtollte, mich auf den pilzig-moosigen Boden hinschmiss, mit den Händen über knorrige Borken strich, mit großen Augen einem ungelenken Käfer zuguckte, wie ein Äffchen kletterte und beschloss, wenn ich groß wäre, nirgendwo anders als hier zu leben, am liebsten hoch oben in der Krone eines Baumes.

So viel ich über das Kompostieren gelernt habe, so einigermaßen gut ich die biophysiochemischen Vorgänge dabei kenne, so widersprüchlich sehr habe ich mir das kindliche Staunen darüber bewahren können. Ich täte gar wagen die Behauptung aufzustellen, dass der Kompost das letzte Einzige ist, das für mich noch diesen einen mirakulösen Zauber innehat. Dass aus einem Haufen aus Kartoffelschalen, Asche, Artemisia-Stängeln, Kaffeesatz, Velociraptoren-Kaka, unbedrucktem Küchenpapier, gerodeter Lysimachia und weiß der Teufel noch was dieses lecker riechende, krümelige Etwas wird, ist und bleibt für mich ein Wunder, das ich immer wieder neu entdecke. Das kindliche Ich klatscht sich in die Hände, das erwachsene denkt an „stirb und werde“ und klatscht ebenfalls, wenn auch einen Ticken ehrfurchtsvoller.

Nee. Der Murmel ist eine formidable Wahl.