Stille Gespräche

So anstrengend, monoton, stupide, ineffizient oder einfach bäh gewisse Arbeiten an meinem liebsten Ort der Welt bisweilen erscheinen mögen, sie haben eine nicht von der Hand zu weisende, ergötzliche Seite: Ich tu sie in der Regel mit mir ganz allein. Beglückt setze ich mich neben den Holzschnittberg, vor mir der Gartensack, in meiner behandschuhten rechten Hand die Lieblingsfelco, ergreife das erste Zweigbündel und beginne 8-cm-Stücke zu schnippeln. Würde ich darüber nachdenken, wie oft meine Hand die Felco zudrücken muss, und wie viel anders zu nutzende Zeit dabei vergeht, bis der Berg erledigt ist, täte ich gar nicht erst anfangen. Manchmal ist Denken grober Unfug. Ich lass es also, denn immerhin habe ich jahrelange Erfahrung im Handhäckseln. Tu’s einfach, du weißt, irgendwann greifst du – schwupps – ins Leere, wo vorhin noch ein Haufen sich aufgetürmt hatte, und bist ganz erstaunt, dass es gar nicht so lange gedauert hat, wie anfangs gedacht. Also. Ich beginne beherzt und gedankenlos.

Egal, ob es sich um den zu häckselnden Haufen handelt oder eine Plantage übelsten Unkrauts, um einen nie enden wollenden Rasen voller Falllaub oder das Ausstechen von 478 Rasensoden-Stücken, zunächst erfolgt die Konzentration. Überlegt geht man die Arbeit an, begutachtet jedes anfängliche Stück genau, findet allmählich die richtige Strategie und Taktik, bis das Ganze von selber vonstatten geht, die Hände wie ferngesteuert die richtigen Griffe erledigen und das Hirn sich selber überlassen ist.
Dann geht’s los. Vergnügt plätschern die Gedanken dahin, mitunter monoton repetitiv wie ein Arbeitslied oder tatsächlich eines, manchmal aber beißen sie sich fest und käuen wieder – ein gerade drängendes Thema, ein kürzlich geführtes Gespräch, eine zum Film gewordene Erinnerung … Es ist eine Art Denken, die ich ohne die Monotonie bzw. Sinnlosigkeit des Tuns nicht erlebe, nicht erleben kann. Wenn ich im Alltag funktionieren muss, bleibt keine Zeit für denkerisches Tüdeldü, da herrschen rasche Entscheidungen, praktische Problemlösungen, entnervende Hektik und viele ablenkende, vornehmlich menschliche Lärmquellen vor. Kaum denke ich kostenlos, läutet das Telefon, wird etwas von mir gewollt, stelle ich mit Entsetzen fest, dass die Rechnungen noch nicht einbezahlt sind, muss ich aufs Klo … Ich muss nie aufs Klo, wenn ich häcksle, jäte usw. tue, merke ich gerade. Interessant.

Und weil ich das alles weiß – immerhin gärtnere ich schon ein Weilchen oft monoton, verschiebe ich gewisse, im Alltag auftauchende Grübeleien ganz bewusst auf den nächsten ineffizienten, monotonen, stupiden usw. Einsatz. Die obigen Ausführungen etwa habe ich mir fürs händische Vertikutieren aufgespart – ich wusste zwar, dass das Denken dabei anders ist, aber das Wie und Warum waren mir schleierwolkig. Der Rasen ist nun gerupft.

Ja, ich mag das, genieße die stille Einkehr, die sich auch mal nach außen kehrt, wenn ein Velociraptor sich zu mir gesellt und scharfen linken Auges beobachtet, was ich da tue: „Ist es spannend? Ja, ne? Das ist ganz doll spannend, was ich da tue. Ne?“ Während ich drüber sinniere, warum Menschen mit Kleinkindern und Tieren gänzlich sinnfreie monologische Gespräche führen, versteht das angesprochene Tier: „Du willst Fressen? Hab ich, da. Guckst du und happst“, vermutlich wie alle angesprochenen Tiere und Kleinkinder, womit sich mein Sinnieren erledigt, weil beantwortet, hat.
Nach außen kehren tut es sich signifikant oft nach zwei bis drei Stunden. Nicht nur Makro- und Mikrolebewesen, auch Gewächse, Steine, Pflanzen werden angesprochen und wenn alle ausgiebig zurückgeschwiegen haben, wird gesungen. Gedämpft, damit es nicht gleich jeder mitkriegt, aber aus vollem Lungenbläschen und sehr assoziativ. Beim beherzten Jäten löst sich ein Stein und kullert den Hang runter: „Papa was a rolling stone … wherever he lay his hat, was his home …“ Hut. Stimmt. Wie bedauerlich, dass man heute keine Hüte mehr trägt. Warum eigentlich nicht? Grübel, jät, grübel.

Aber eigentlich brennt mir was anderes auf den tippenden Fingerspitzen und alle Zeilen bis hierhin waren nur Einleitung. Hin und wieder nämlich habe ich das Glück, mit jemandem zusammen mehr oder weniger monoton werkelnd vor mich hinzusinnen; in den letzten zwei Wochen waren es gleich ganze drei Male, wovon nur eines im eigenen Garten stattfand.

Ich hatte in den Fremdgärten mit Menschen zu tun, für die es dieses Jahr das erste Mal war. Das mehrstündige Draußensein mein ich. Schon erstaunlich, wie sehr wir das brauchen. Die frische Luft, die zögerliche Frühlingssonne, die langsam erwachende Natur, körperliches Arbeiten – beide hatten innert kürzester Zeit knackerote Wangen und ein Lächeln auf dem Gesicht, das nicht mehr verschwinden wollte.

So arbeiteten wir also gemeinsam nebeneinander und die verlauteten Gedanken ebenso. Ein solches Gartenarbeitsgespräch mit einem Menschen, egal, ob er einem ein bisschen vertraut oder bis zu diesem Moment gänzlich unbekannt ist, hat eine ganz eigene Qualität. Auf einen platten Nenner gebracht: Man kommt unweigerlich auf beeindruckend persönliche Themen, die man bewusst – sagen wir mal in einem Café – nie und nimmer ansprechen würde. Aber da passt es, weil es einfach passiert.

Ich hatte das vorher schon oft erlebt und es recht lange als Zufall, Koinzidenz oder halt Wahrscheinlichkeitsausreißer betrachtet (was für ein langes, schönes Wort). Denn es ergab für mich keinen Sinn. Wenn ich mich redend auf einen Menschen einlasse, dann habe ich die Angewohnheit, ihm in die Augen zu sehen. Tu ich das nicht, dann interessiert er mich nicht wirklich oder ich bin gedanklich anderweitig beschäftigt; genauso oberflächlich sind dann auch die Gespräche. Tja. Beim Jäten oder Obstbaumschnitt haben meine Augen deutlich Wichtigeres zu tun, als in diejenigen des Anderen zu tauchen. Nichtsdestotrotz wurde ich noch nie so ausgefragt, kriegte ich noch nie so viel vom Gegenüber mit, wie wenn ich gerade am Sägen eines Astes oder beim operierenden Jäten von Oxalis corniculata war. Es waren immer schöne Gespräche, spannende, zum Nachdenken anregende, und von jeder Person verabschiedete ich mich so dankbar wie sie sich von mir. Gartenarbeit ist mehr als Gartenarbeit.

Nun ja. Ich grüble mehr, als dass alle Gartenarbeiten dafür reichen würden. Glücklicherweise habe ich zwei Menschen an meiner Seite, die auf meine zwecklosen Gedanken gerne eingehen und hocherfreut mitgrübeln. Heute war es der Nichtgärtner, der mir unter die Arme griff. Ich suchte immer noch nach einer befriedigenden Erklärung für diese Gartenarbeitsgespräche, unterbreitete die Chose und kriegte unvermittelt die fragende Entgegnung: „Waren es nur Frauen?“ Ich kramte in meinen Erinnerungen und konnte guten Gewissens verneinen. „Dann“, so er, „muss es der Beichtstuhl-Effekt sein.“ Nicht übel. „Du meinst, gerade weil man nicht beobachtet wird, kann man eher persönlich werden? Hat was, doch.“ Ich stand in der Küche und verteilte gefrorene Kirschen auf dem Teig, überlegte mir, was ich beichten würde, wenn ich beichten täte, und wurde jäh in die kirschkuchige Realität zurückgerufen: „Oder das Nebenher. Man kann reden, muss aber nicht. So was löst Zungen.“

Auch wahr. Sehr wahr. In kaum einer anderen Situation wird ein Schweigen nicht als peinliche Stille empfunden. Beide werkeln vor sich hin, versunken, selbstvergessen und irgendwann meint die oder der eine: „Du. Sag mal. Hast du als Kind auch schon mal ’nen Regenwurm gegessen?“

Habe ich nicht. Aber dafür mit dem Nichtgärtner den Kirschenbaum geschnitten, will heißen, endlich dessen mindestens Oberschenkel dicke, himmelwärts wachsende Äste gesägt. Mit einer Handsäge. Wobei dabei bloß der Nichtgärtner sägte, während ich unten entweder den runterfallenden Trumms auswich, unverdrossen das Kleinzeugs handhäckselte oder was von „da und dort ableiten, aber achte auf die richtige Schnittführung“ faselte.
Ohne meinen Nichtgärtner wäre ich aus zweierlei Gründen aufgeschmissen gewesen. Wohl war ich wild entschlossen die schwankende Leiter hinauf geklettert, hatte über unser Hausdach in die weite Landschaft gesehen, aber von da an nicht mehr viel. Zitternden Knies und mit unvorteilhaft fahlgrüner Gesichtsfarbe versuchte ich an dem Metallleiterding klebend sicheres Land zu gewinnen. Der andere Grund liegt auf der Hand. Hätte ich gesägt, hätte die ganze Aktion zwei Wochen gedauert.
Und so arbeiteten wir nebeneinander vor uns hin. Ich hörte über mir ein „Chrrr … Pause … chr-chr-chr-chr … Pause“, er hörte unter sich ein „Schnipp-schnipp-schnipp-kracks … Pause … schnipp-schnipp“ und beide pflegten wir ein geschäftiges Schweigen. Als wir fertig waren, setzten wir uns auf die Bank, prosteten uns zu, bewunderten unser Werk, beglückwünschten einander und waren mit uns, dem Kirschbaum und der Welt zufrieden. Gesprächig still.

Der Kirschkuchen ist im Ofen und mein Nichtgärtner hat beschlossen, mir (sich) zu meinem Geburtstag eine Motorsäge zu schenken.