Eingefriedet

Letzthin saß ich bis weit in die Abenddämmerung hinein im Garten. Eingemummelt zwischen der herbstgetönten Hecke und den immer noch blühenden Tricyrtis-Horsten starrte ich friedlich gedankenplätschernd ins Leere und konnte mich nicht sattsitzen. Selbstvergessen schnupperte ich in die myzelige Luft und fühlte mich mit einem Male um Jahre zurückversetzt.

Es war auch Herbst, den noch grünen Rasen und das bunte Herbstlaub konnte ich im letzten Abendlicht nur noch erahnen. Als die Kassette fertig war und ich nach dem Walkman in meiner Jackentasche nestelte, um sie zu drehen, nahm ich sie erst wahr. Diese Ruhe. Ich zog die Stöpsel aus den Ohren, zündete mir eine neue Zigarette an und gab mich plätschernden Gedanken hin über den Ort, an dem ich mich gerade befand.

Mit 17 hat man Diverses zu verbergen, vor allem vor den Eltern, vor allem dann, wenn man heimlich mit dem Rauchen begonnen hat und ganz vor allem dann, wenn man in einem kleinen Dorf lebt, in dem dich jeder Dritte kennt. Es gab nur einen Ort, an dem man zu gewissen Zeiten garantiert weder gesehen noch behelligt wurde, und dies war der kleine, liebevoll gepflegte Friedhof mit seinem hohen Heckenrahmen.

„Wie viele Stunden hatte ich darin verbracht?“ fragte ich mich und rieb wiederholt mit dem Zeigefinger über ein zu zupfen vergessenes, stachliges Kinnhaar (mit 17 dachte ich noch, meine Omama sei das einzige Frauenzimmer mit Solchigem).
Ob es eine Sünde war? Ob im Nachhinein vielleicht jemand daran Anstoß nehmen könnte? Das Rauchen ist sicherlich keine Tugend, Heimlichkeiten ebenso wenig. Und ja, ich hatte diesen Ort für meine niederen Zwecke missbraucht. Aber wenn ein Mensch, dessen Leben noch vor ihm liegt, in stiller Ruhe, Einkehr und eingestöpselter Musik dasitzt, bewundernd die Grabbepflanzungen studiert, manchmal aufsteht, um die Inschriften auf den Steinen zu lesen und sich vorzustellen, was für ein Mensch das war, und dabei ganz ergriffen wird, kann das doch so verwerflich nicht sein.

Vergeblich versuchte ich, mit den Fingern das Kinnhaar auszuzupfen, und gab mich weiterem Gedankenplätschern hin. So eingefriedet wie ein Kirchhof ist auch mein Garten. Und auch hier sieht mich niemand bei Heimlichtuereien – theoretisch jedenfalls, denn inzwischen tue ich in Höfen nichts mehr, was zu verheimlichen wäre.
Aber diese Ruhe, die gibt es hier nur im November. Oder besser gesagt dann, wenn der Altweibersommer zwar noch andauert, die Pflanzenwelt sich aber sichtbar anschickt, ihr vorläufiges Adieu vorzubereiten.
Da brummt und rumort es kaum mehr unter der Erdoberfläche. Oberhalb blüht es zwar hier und da noch, aber mit diesem bitter-süß melancholischen Vorgeschmack des Abschiednehmens.
Ich bin zwar traurig, dass die Saison zu Ende geht, freu mich aber jetzt schon auf die nächste. Denn auferstehen, das werden die meisten. Und noch ganz viele, von denen ich es niemals erhofft oder gewünscht hätte.

So in etwa nahm ich als fünfjähriges Kind den Tod wahr. Gitane, unser schwarzer Schäferhundwelpe, war nicht mehr da, als ich nach zwei Omama-Wochen nach Hause gekommen war. „Er hat einen toten Vogel gefressen und ist jetzt nicht mehr da“, bekam ich als Antwort auf meine erste Frage und dachte: „Ok. Vielleicht ging er weg, um weitere Vögel zu finden. Wenn er satt ist, wird er wieder zurückkommen.“

Mit sieben blieb ich bei der Auferstehung, dieses Mal mit der Entdeckung des Recycling-Prinzips, und konnte damit immerhin zweieinhalbmal meine Mutter beglücken. Beim dritten Mal kam ihre stirnrunzelnde Frage: „Nick, woher hast du diese Blumen?“ Breit lächelnd erzählte ich ihr von diesem gelben Container auf dem Friedhof, der gleich neben meinem Schulweg sei, und in den ganz viele noch ganz schöne Blumen geworfen würden, und die schönsten tät ich jeweils für sie rausnehmen und nach Hause bringen. Ich warf mich stolz in die Brust, ein Riesenkompliment erwartend. Meine Mutter, die befürchtet hatte, ich hätte die Gärten irgendwelcher Leute geplündert, war erleichtert, trug aber gleichzeitig einen sehr seltsamen Ausdruck im Gesicht. „Nick, das ist lieb, aber tu das, bitte!, nie mehr.“
Es war mir rätselhaft, aber ich ließ es brav bleiben, bis heute. Zwar locken die jeweiligen Container, aber gelernt ist gelernt: Entwende nichts, was von einer Grabbepflanzung im Container landet. Nicht mal dann, wenn es eine noch lebensstrotzende Trouvaille wäre.

Belustigt kicherte ich vor mich hin, als das Fenster aufging und Nichtgärtner ins Dunkle blinzelnd raunte: „Hallo?“ „Hier bin ich“, sagte ich und winkte nutzlos in die Luft. „Was tust du da bitte?“ – „Sein. Ist gerade so schön, ich kann noch nicht reinkommen.“ – „Aha.“ Kopfschüttelnd kichernd schloss er das Fenster.

Ich grinste ihm hinterher und steckte die Hände in die Jackentaschen.
Ich kann mir nicht helfen, ich mag Friedhöfe. Kaum betritt man einen, scheint man den lärmenden Alltag hinter sich gelassen zu haben. Zu meinen Füßen knirschen die Kieswege, flüstern die Grasteppiche, zwitschern vielleicht ein paar Vögel, aber ansonsten ist stille Ruhe. Gut so. Man soll nicht nur ein Auge, sondern auch ein Ohr für die vielen Geschichten haben, die sich hier versammeln.

Eine meiner schönsten Reisen ging nach Paris. Es war nicht die Stadt der Liebe, die ich damals besuchte, sondern in erster Linie deren Friedhofsstädte. Stundenlang gingen mein guter Historiker-Freund und ich durch den Cimetière de Montmartre und den Père Lachaise, blieben vor diesem und jenem Grab stehen, sprachen – immer flüsternd – über Handwerk, Menschliches, Vergänglichkeit, Beständigkeit, sinnierten über die Inschrift „Concession à perpétuité, No 254, année 1832“ und fanden heraus, dass dies das ewige Grabrecht bedeutet, malten uns das Leben der Menschen aus, die hier ruhten, stolperten fast über Heines Grab: „Heine! Schau mal! Das ist Heinrich Heines Grab!“ und fühlten uns ganz romantisch, rochen an überirdisch schönen Blumen: „Plastik“, kamen mit einem Friedhofsgärtner ins Plaudern, der gerade Laub kehrte, und erfuhren entzückt:
Friedhofsgärtner sind down to earth, sprich: die stehen mit beiden Beinen auf dem Boden.
Wir streiften auch durch belebte Gassen, Flohmärkte und Museen, schlugen uns den Bauch voll in diversen Crêperies und Restaurants und genehmigten uns leckeren Wein und eben solches Bier. Aber am meisten geblieben sind mir die beiden Friedhofsstädte.

Etwas steifbeinig erhob ich mich, tastete mich der Hecke entlang runter, ging in die Küche und füllte mein Glas auf. Vom Ohrensessel ertönte ein: „Noch nicht genug?“ – „Noch eine Viertelstunde?“ – „Feel free.“
Ich fühlte frei und tastete mich maulwürfig zu meinem Heckensitzplatz zurück.

Es ist dies unsere hiesige Tradition: Tief in die Erde stechen, zig Schaufeln ausheben, hineinlegen, zögerlich zuschaufeln, mit Grabstein und Pflanzen bestücken und fortan die Pflanzen pflegen. Nichts anderes als Trauerarbeit, körperlich übersetzt.

Nur … heute werden die Gräber von fremder Hand ausgehoben. Man darf nicht mehr selber ausstechen, die körperlichen Schmerzen dabei fühlen, hemmungslos dabei heulen und sich trotzdem überwinden müssen. Und – wie ich beim Googeln irritiert herausgefunden hatte – auch die Bepflanzung und deren Pflege wird einem heute ganz selbstverständlich übernommen, sofern man dafür Geld auszugeben bereit ist.

„Essen ist fertig!“, rief Nichtgärtner in die Nacht hinaus. Ich erhob mich, wischte mir die Erdkrümel von meinem kalten Popo und ging ins hell erleuchtete Haus.

 

 

Kaum hatte ich diesen Text zu Ende geschrieben, als mich die Nachricht erreichte,
dass ein ganz besonderer Mensch mitten aus dem Leben gerissen wurde.

Die Grüntöne hatten uns zueinander geführt.
Dass ich mich ausgerechnet jetzt auf dieses Thema eingelassen hatte,
berührt mich umso mehr.

Ronald,
hättest du diesen Text gemocht?
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass du die folgende Zeilen gemocht hättest:

Danke, Roro, dass du warst, wer du warst,
und dass du mir diese, meine ganz eigenen Erinnerungen an dich zurücklässt.
Und grüß doch die Frau Holle, bitte schön. (Sag, hat sie wirklich so lange Zähne?) Und sag ihr auch, dass ich im nächsten Frühjahr einen Holler-Steckling schneiden, ihn aufpäppeln und euch beiden zu Ehren pflanzen werde.
In meinem eingefriedeten Garten.

5 Kommentare

  1. Ich bewundere sehr, wie Du zu Deinen verschiedenen Themen immer Worte findest, die so viele verschiedene Menschen denken und fühlen lassen: “Genau das kenne ich! ” Ich finde das herrlich verbindend in Zeiten von Distanz und manchmal so eitel betonter Individualität.
    Überhaupt fallen mir immer zwei Adjektive zu Deinen Texten: authentisch und uneitel.

  2. Roro hätte deinen Text gemocht, da bin ich mir sehr sicher. Und er hätte sicherlich einen wirklich guten Kommentar dazu geschrieben 🙂

    Ich mag ihn auch sehr. Friedhöfe haben auch mich immer fasziniert, vorallem die, auf denen noch wirklich alte Gräber zu finden sind. Leider sind die heutigen Friedhöfe langweilig. Alles ist vorgegeben, was wie gepflanzt und angelegt werden darf.
    Trotzdem strahlen auch diese Ruhe und Frieden aus.

    und jetzt brauch ich ein Taschentuch, weil mir das Ende deines Textes wieder die Tränen in die Augen getrieben haben

    1. Ja, Roro hätte da definitiv was Wunderbar-Emotionales und gleichzeitig Kichernd-Schönes geschrieben.
      Aber dein Kommentar ist genau so berührend, danke dir dafür!

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