Der Blick zurück

Irgendwann zwischen Ende Dezember und Anfang Januar setze ich mich in aller Stille hin, nehme mein Gartentagebuch zur Hand, blättere zur nächstleeren Seite, entdeckle den Füller, schreibe langsam das Wort «Rückblick», unterstreiche es sorgfältig und betrachte die weiße Wand vor mir.

Ein weiteres Gartenjahr ist zu Ende, der Beginn des nächsten zieht sich noch ein Weilchen hin, es ist dies eine sonderbare Zwischenzeit, eine Anderswelt gleichsam – ungewohnt, ja. Aber nicht unangenehm.

Die perfekte Zeit, zurückzublicken und mit Stichworten festzuhalten, was sich dieses Jahr alles getan hat: Geschehnisse, auf die ich Einfluss hatte, wie etwa die Neuanlage eines Beets, und andere wie Wetter- oder sonstige Kapriolen. Anschaffungen, Erstentdeckungen und neue Liebeleien, unvermutete Todesfälle, unverhoffte Auferstehungen und unverschämte Ernteschwemmen.
In loser Reihenfolge schreibe ich nieder, was die Erinnerungs-Diashow in meinem Kopf hergibt. Einzelne Momentaufnahmen reihen sich aneinander und jede verlöscht, sobald die nächste erscheint.
Der grausam heißtrockene Sommer und der verstörend milde Winter Klick Die neue Stihl Klick Trotz der Raptoren wieder massig Kirschfruchtfliegen Klick Das furiose In-Liebe-Fallen mit Gräsern Klick Zum ersten Mal Perilla und das daraus entstandene leckere Pesto Klick Die beiden Weidenvorfälle Klick
ein wunderbar wohltuendes Wechselbad der Gefühle.

Die einwendende Frage nach dem Warum ist berechtigt. Wofür, bitte schön, führt man ein Gartentagebuch, wenn es darüber hinaus eines rückblickenden Resümees bedarf?
Nun.
Gartentagebuch ist ein gar hochgegriffenes Wort. Wenn ich arg schreibselig bin, dann erfolgen die Einträge zweimal wöchentlich, bisweilen findet sich pro Monat aber nur ein einziger. Da klaffen informative Lücken, dass einem angst und bange werden könnte.
Die andere Sache ist die: Wenn ich huschrasch nachschauen möchte, wie der Garten in früheren Jahren mit einem verregneten Sommer zurecht kam, dann mag ich mich nicht von urgestern bis heute durch die einzelnen Einträge wühlen. Umso mehr, weil ich dieses Gartenwochenbuch auch für vollkommen nutzlose Infos nutze.
23. April
(…) Es ist Morgen, bin unter Glyzine & Gloria sitzschläft neben meinem Schreibarm. Schmelz. Sie riecht nach Legehennenmehl, grins. Sollte gießen, aber lass mir noch ein Stückchen von diesem herrlichen Moment. (Wenn denn Porthos endlich zu krähen aufhören würde …)

Im Huschrasch-Such-Modus ist so nebensächliches Blabla nervenzermürbend, aber ganz und gar nicht so, wenn bei meinem Rückblick irgendwann ein Dia stecken geblieben ist, und mir bei aller Mühe nicht mehr einfallen mag, was da sonst noch war.
Oh, ein Jahr ist lang. Viel länger, als man denkt. Und ein Gartenjahr gleich viermal so lange.
Wenn also gar nichts mehr gehen mag, zupple ich das letzte Dia aus dem Projektor, blättere seelenruhig zurück auf Jahresanfang, nehme einen Schluck Wein und lese mich durch bis zum letzten Eintrag, darauf bedacht, die Liste lückenlos zu ergänzen und … mich zu ergötzen. An unfreiwillig Komischem etwa.
10. Mai
(…) Zausel ist geleert – eine Freude, ihn mit Kompost zu füllen! So hübsch jungfräulich und sooo viel Platz!

Der Wein ist alle, ich bis zum Rand mit Ergötzen gefüllt, die Liste ergänzt. Bedächtig deckle ich den Füller zu, lege ihn beiseite und überblicke die zwei listig mit kleiner Schrift gefüllten Seiten (listig kommt in diesem Satz sowohl von List als auch von Liste. Das nur so nebenbei).
Das war mal anders. Der erste Rückblick vom Jahre 2002 kam mit gerade mal sechs Aufzählungen aus. 2007 waren es doppelt so viele. 2013 konnte ich mich nur vermittels Mikroschrift auf eine Seite beschränken. Der Grund ist so simpel wie unbekannt:

Gärten vermehren sich. Innerhalb ihrer selbst.
Im Zuge dessen, dass die Gemeinde bereit war, etwas von ihrem Land günstig abzutreten, wuchs der meinige gar um sagenhafte neun Quadratmeter, was in der Schweiz schon ein halbes Häuschen ist. Aber das war ein bloßer Glücksfall und hat nichts mit meiner gemeinten «Vermehrung» zu tun. (Seht ihr? Das meine ich mit nutzlosen Infos.) (Dies nur so nebenbei.)
Man beginnt mit Rasenfläche, Hecke und zwei Beeten, sieht im Frühling nach einigen Schneeglöckchen und Krokussen zehn Narzissen und zwanzig Tulpen blühen und wähnt sich in einem Blütenmeer. Ein Jahr später sind es eine Rasenfläche, Hecke, vier Beete, mehr Galanthüssers, Krokusse, Muscari, Narzissen, Tulpen, Anemonae blandae, … und zehn Jahre später sind es diverse kleine Rasenflächen, unter der Hecke strecken sich unterschiedliche Schätze und in den Beeten schatzkistet es wie noch nie zuvor. Irgendwann werden die Zahnzwitschenräume entdeckt: Semperviven, Moos, Sedümmers oder Papaver somniferum dürfen und sollen in den Plattenspalten vor sich hin wuchern. Nachdem eine weitere Rasenfläche dem Horto-Gott geopfert worden ist, steht man vor der Vinca-minor-Monokultur und denkt zu Recht: «Muss die sein?»

Kurz bevor sie dem gedanklichen Rotstift zum Opfer gefallen ist, labe ich mich an den alten Jahresrückblicken. Ja, der Blick zurück ist bei mir ein dreifaltiger. Nachdem ich nachgeschenkt habe, zücke ich den Rotstift und mache mich daran, alle Rückblicke von 2002 bis 2014 zu genießen und dabei hin und wieder mittels Kreuzsymbol und Jahreszahl (jetzt also: 2015) korrigierend einzugreifen, denn
was dieser heute baut, reißt jener morgen ein, und was einst gewachsen ist wie der Deibel, ist heute murksimorsch.
Mit dem Rückblick 2014 beende ich mein alljährliches Ritual, bleibe aber noch an einem letzten Dia hängen:
–   Neues Farnwehbeet, u.a. mit den Geschenken des großen Bruders.
Erstaunlich, dass es erst zwei Jahre alt ist, irgendwie war mir, es sei schon viel länger am Werden.
Oh, zwei Jahre sind kurz. Und zwei Gartenjahre gleich viermal kürzer!

In meinen Adern beginnt es zu brodeln und gurgeln.
Wie wohl das Neugesetzte im nächsten Jahr daherkommt? Und die blindlings versenkten Zwiebelknollen? Und der erste Kompost voller Raptoren-Ausscheidungen? Und die erwartungsfroh getopften Säm- und Stecklinge? Und überhaupt?

Man blickt zurück und damit unweigerlich vorwärts. Eine seltsame Zeit. Aber keine unangenehme.

In eigener Sache
Falls du, Muse, hier reinblickst: Danke auch recht herzlich. Sich einfach so unangekündigt zu verdünnisieren, um beim Silvestermusentreff auf dem Vesuv die Puppen tanzen zu lassen, finde ich, gelinde gesagt, grenzwertig.
Nimmermehr übrigens auch.
(Sollte man Nimmermehr nicht kennen, genügt ein Klick auf „Über Nick“ – es ist der schwarzgefiederte Nicht-Nick mit dem Vornamen Tüüfeli, zu Andersdeutsch: Teufelchen.)
Aber ich will mal nicht so sein: Dir, deinen Musenkolleginnen und all jenen, die bis hierher durchgehalten haben, wünsche ich ein erfüllendes Rüberrutschen ins neue Jahr. Auf dass es allen das bringt, was sie sich sehnlich erhoffen.
Mit lieben Grüßen
Nick

Zum Beitragsbild: Geschossen hat diesen Augenblick Giorgio Hösli – so wundervoll lebensecht verdreckt wie alle Bilder im Grüntöne-Buch. (Das Dia ist von meiner Omama, die mich, damals etwa vierjährig, im Garten abgelichtet hatte, wie ich tatkräftig danach trachtete, mich des Gartenschlauchs zu behändigen.)

13 Kommentare

  1. Hallo Nick,
    seit Beginn deines Blogs sind die Grüntöne fester Bestandteil meines Gartenjahres geworden. Ich warte immer voller Vorfreude auf die nächsten Grüntöne. Staune über deine Ideen, bin begeistert von deinen Wortschöpfungen und fühle mich in deinen Texten einfach wohl.
    Dafür ein großes, dickes Danke.

    Liebe Nick, rutsch gut ins neue Gartenjahr. Es soll dir deine Wünsche erfüllen und viele neue Ideen für weitere Grüntöne bringen.

    1. Liebe Inge

      Ich kann mir gerade nichts Schöneres vorstellen, als mein neues Jahr mit diesen, deinen Worten zu beginnen.
      Danke!!!

  2. Hallo Nick, was für ein erfreulicher Fund – heute kurz Mails durchgesehen, nachgeschaut ob eventuell was Neues bei Grüntöne aufgetaucht ist und siehe da – die Frau vergisst keinen 2. Donnerstag ! Danke schön.
    Ich wünsche Dir ein “reichhaltiges”, spannendes, blumen- und gemüsereiches Jahr, viele erfüllte Träume und Wünsche, einen stabilen Rücken, Gesundheit und viel Freude und Zuversicht, und dass Dir Deine Muse treu bleiben wird.

    Was für eine schöne Gewohnheit, Ende Jahr einen Rückblick nieder zu schreiben. So dass Du Deine Gartenträume, -Arbeiten, -projekte etc. über Jahre im Blick hast – ein ganz grosses Kompliment. Nachahmenswert! Meine Gartentagebuchnotizen sind anfangs Jahr sehr ausführlich und werden, je länger das Jahr dauert, immer weniger und versanden gegen Ende Jahr fast ganz. Das Rekonstruieren ist da schon etwas mühsam. Ich beginne jedoch unbeirrt jedes neue Gartenjahr wieder mit Notizen und Bildern, in der Hoffnung, dass es dieses Jahr viel, viel besser wird.
    Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ist auch für mich die Zeit mit Gartenrückblicken und Vorausblicken, v.a. Blicken in die Samenkiste, und mit jedem Samensäcklein mehr, wächst meine Vorfreude . . . .
    Lassen wir uns überraschen.
    Liebe Grüsse
    Saattermin

  3. Liebe Nick,
    jetzt bin ich überrascht. Ich hätte alle Eide geschworen, dass Du ganz gewissenhaft Gartentagebuch schreibst. Ich hingegen….jedes Jahr fange ich ein neues von Moleskine an, so eines, bei dem auf der einen Seite ein Wochenkalender ist, auf der anderen Seite nur leere Linien. Es gibt Wochen, die gähnen vor Leere. V.a. gegen Ende des Jahres klaffen ganze Abgründe. Dann schreibe ich wenigstens rein: “sehr kalt” oder diagonal über die Seite “Nass und warm” (das war erst kürzlich). Manchmal sind auch kurze Pflanzlisten und zwischen den Seiten die zugehörigen Kaufstecker. Aber nie sind es poetische, die stimmungeinfangende Notizen (ok, fast nie). Darum beneide ich Dich, wirklich!

    – Gärten vermehren sich. Innerhalb ihrer selbst. –
    Wie sehr stimmt das! Und wie genial einfach, mit ein paar Worten hast Du dieses Phänomen beschrieben, das wir alle kennen, die wir mit mit Leidenschaft, mit immer neuen Pflanzgierattacken, gärtnern.
    In diesem Sinne bepflanze ich in Gedanken schon mindestens dreimal komplett die noch gar nicht ganz geräumte Schneebeerenfläche und nehme mir fest vor, alles Efeu zwischen den Hainbuchen rauszurupfen, um dort Tausende von Cyclamen anzusiedeln (z. B.).
    Danke für diesen Blog, er macht mir immer wieder Freude und Dir und mir und allen, die hier lesen, ein grandioses Gartenjahr.

  4. Liebe Nick

    Während ich deinen neuen, immer wieder so spannenden Text las, dachte ich mir plötzlich: Ach Mensch vergeht die Zeit so schnell. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich Gloria was zum Essen geben konnte. Das war schön. Es ist schon eine Weile her! 😉

    Tatsache, aber, ist, dass deine Texte mir – uns, Lesern – erlaubt, einen intimen – ja würde ich mal so formulieren -, privilegierten Blick in dein Leben, in deinen Garten zu bekommen. Und dafür tausend Dank an Dich!
    Kann man irgendwann mit dem Lesen aufhören? – Ehrlich gesagt, nein! Von Anfang an weiss man genau, dass man den Text bis zum Ende lesen wird, und dann, wenn das Ende plötzlich da ist, kommt das “Ach! Schon fertig!” 🙂

    Deshalb: Hut ab! Congratulations!

    1. @ Saattermin: Ja, ich hoffe, meine Muse hat deine Zeilen gelesen. Sie ist immer noch nicht zurückgekehrt (Mistding!) von ihrer Megaparty. Nimmermehr ist schon ganz grantig.

      @ oile: Ich finde es ja schmeichelhaft, dass du mich als so diszipliniert wahrnimmst. Ich wäre froh, würde das auch nur ansatzweise zutreffen. Lustiger – weil weniger entblössend – fand ich deine Ideen zur Hainbuchen-Unterbepflanzung. Genau dasselbe dachte ich vor zwei Wochen. Genau dasselbe!

      @ Prinz Philippe: Du bist ein Schatz. Deinem Kommentar von dir – einem Manne, der französischer Muttersprache ist und sich nichtsdestotrotz durch den Dschungel meiner Allemand-Worte durchzukämpfen weiss – gebührt mein grösster Respekt.

  5. Habe grade erst Deinen Blog entdeckt, ratz-fatz die letzten Beiträge durchgelesen und mich dabei bestens amüsiert. Jetzt kann ich mich einer Erwiderung nicht enthalten.
    Deine Beiträge sind höchst kurzweilig und auch lehrreich (wer war sich schon der Doppeldeutigkeit von ‘listig’ bewußt?).
    Zu kritisieren sind allenfalls Deine Kenntnisse der botanischen Nomenklatur: der Plural von Galanthus nennt sich Galanthussis (nicht Galanthüsse) und lautet bei Krokus natürlich Kroküsse anstelle Krokusse. Irgendwie sind Dir da wohl die Wechselstaben verbuchselt.
    Ansonsten bitte weiter so!

    1. Kennt mich nicht mal und kommt mir gleich so stinkfrech, diese Erstfrau.

      Wie allerhöchst und erfrischend sympathisch!

      1. Für ein ‘echtes Kennenlernen’ bin ich räumlich zu weit entfernt – nur darum hab ich den Mut zu verbalen Frechheiten.
        Ohne Dich wirklich zu kennen, wage ich jedoch zu behaupten, dass wir ein ähnliches Naturell haben!

  6. Alles Thussis diese Galanthen 😀

    und bei uns heißen Krokusse nicht Kroküsse sondern Krokanten. Krokant schmeckt ja auch viel besser

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