Hörbar

Die Kirchturmuhr hatte vor einem Weilchen neun Uhr geschlagen, ich schaute in den provisorischen Velociraptorenstall, wünschte leise sangsingend den eingemummelten Mädels auf der Sitzstange gute Nacht, ließ die Tür sachte ins Magnetschloss klicken, drehte mich um und erblickte dabei die Nachtkerze.
Letztes Jahr wuchs an dieser Stelle – mitten im Eingang zu den Kompostjungs – eine mehr als drei Meter große Gemüsemalve, dieses Jahr befand es nun eine ausladend gelbe Schönheit für nötig, mir ein geschmeidiges Durchkommen zu verunmöglichen. Ich weiß, so als Mensch wäre man auf der evolutiven Leiter höhersprossig einzuordnen und könnte problemlos eliminieren, aber eben. Man hat auch diese Emotionen und so.
Ich betrachtete die Nachtkerze und erinnerte mich an etwas kürzlich Gelesenes. Dort hieß es, dass die des Nachts sich öffnenden Oenothera-Blüten dies mit einem hörbaren Plopp tun täten, was unvergesslich sei. Ich war fasziniert und vergaß es bis zu eben diesem Abend.

»Na, da bin ich mal gespannt«, murmelte ich und beobachtete die restlichen, noch geschlossenen Knospen. Nach nur wenigen Sekunden regte es sich im Augenwinkel: Eine der Knospen zuckelte, ein Blütenblatt löste sich auf der Seite, dann ein anderes … sie hielt inne, als würde sie erneut Kraft schöpfen, … es ging ein Ruck durch sie hindurch und die oben unsichtbar zugeschnürte Blüte sprang auf wie ein Regenschirm, den jemand entschlossen aufspannte. »         «, dachte ich und schloss langsam den Mund.
Nachdem ich die verbleibenden Schirmkandidatinnen gezählt hatte, rannte ich so schnell und leise ich konnte (nicht, dass durch meine Schuld die Knospen erschreckt und darum vorzeitig aufspringen würden) ins Haus, rief den Nichtgärtner flüsternd: »Schnell! Komm! Das musst du gesehen haben! Jetzt!« und eilte zurück zur Nachtkerze. Ein bisschen außer Atem kontrollierte ich die vier Knospen. Uff. Noch alle zu. Nichtgärtner rannte herbei. Und dann warteten wir.
»Ganz ehrlich, es lohnt sich. Gleich … gleich geht die hier auf. Ganz sicher. Glei… die hier! Guck!«, wisperte ich und zeigte mit hektisch ausladenden Zeigefingerbewegungen auf die eine, die sich anschickte, nächstens aufzuspringen. Und so öffneten sie sich eine nach der anderen alle vier und ließen uns wortverloren staunen. Verzaubert gingen wir zurück ins Haus und glaubten wieder an Märchen.

Aber gehört habe ich nichts. Weder ein Plopp noch sonst etwas. (Metaphorisch schon, aber metaphorisch sehe ich auch Ackerwinden mir diabolisch zuzwinkern.)
Das war gestern. Heute Morgen wachte ich auf und dachte als erstes:
»Kotz! Was für ein Albtraum!« … ach ja, stimmt. Korrigiere: Nicht als erstes, aber ganz kurz danach dachte ich: »Meine liebe Scholle! Die Nachtkerze gestern war ja unglaublich! Aber plopp hat sie nicht gemacht.« Und dann sinnierte ich über das Plopp sowie über Geräusche im Garten und Allgemeinen. Aber vor allem über Geräusche im Garten.

Die ersten höre ich, während ich noch im Bett liege und dank seniler Bettflucht-Umstände mal eben so um vier Uhr erwacht vor mich hin warte. Es sind fidele Gesellen, diese gefiederten Schnabelträger und sie wollen ihre Fidelseligkeit auch dem ganzen Umland kundtun. Jedes Mal aufs Neue verwundert mich das ebenso, wie es mich belustigt. Dass man im frösteligen Morgentau, in dunkelster Düsterheit solch eine überschäumende Lebensfreude an den noch ungeborenen Tag legen kann … seltsam, fürwahr.
Es beginnt der Cerberus leise zu schnarchen und Nichtgärtner stimmt sonor ein. Ich ärgere mich, stupse beide an, drehe mich um und schlafe wieder ein.

Anders als um vier Uhr morgens gehört das fröhliche vöglische Gezwitscher am hellichten werktätigen Tage zu den Geräuschen, die man vor allem dann bemerkt, wenn sie plötzlich nicht mehr da sind. So wie das Brummen, Summen, Dröhnen, Zirpen und Sirren des ungefiederten Geflügels.
Nichtgärtner wird nicht müde, von jenem denkwürdigen Frühjahr zu erzählen, das so kalt und regnerisch daherkam, dass sich sogar Wildbienen ins Nirgendwo verzogen hatten: »Wir saßen unter der blühenden Wisteria und da war … nichts. Nichts! Einfach nur Stille! Unfassbar, wie unheimlich das war.« Das war es in der Tat. Gerade unter der Wisteria dröhnbrummt es bisweilen so intensiv, dass man meint, das eigene Trommelfell vibrieren zu spüren – ein ganz eigenartig angenehmes Seltsamgefühl. Aber eines, das so untrennbar zur Wisterienblüte gehört (die sich bei unserem Seltsamexemplar bis in den Herbst hineinzieht), dass man sich dessen kaum mehr bewusst ist.

Es geht seltsamer, doch dafür muss man an meiner Nepeta kubanica vorbeigehen (oder an einer anderen, aber ich habe halt nur meine). Ganz, ganz sachte fühlt es sich in den Eingeweiden an wie damals im Übungskeller neben dem Lautsprecher. In Gedanken oder Tätigkeiten versunken überfühlt man es leicht und kratzt sich vielleicht höchstens am gekitzelten Bauch. Zu oft wummert es an dieser Stelle, als dass man aufmerken würde. Aber hin und wieder tut man es, blickt auf und sieht: Mitten vor den Augen hängen Taubenschwänzchen in der Luft, strecken ihre überdimensional langen Saugrüsselchen in die violetten Lippenblüten und bechern schwirrfliegend. Lächelnd geht man weiter, reibt sich den Bauch und geht ins Gemüsebeet, um zu jäten. (Vielleicht ist es ja auch nur ein metaphorisches, weil gemeintes Erfühlen, aber das soll uns nicht davon abhalten, zu lächeln und uns dabei den Bauch zu reiben.)

Eine turtlige Türkentaube gurrt, ich bin wieder ein kleines Kind und ziehe Möhren aus Großmutters Gemüsegarten im fernen Süden. Weiter oben fährt ein Traktor vorbei, ein Spatz raschelt im Ginkgo, im übernächsten Haus läutet das Telefon, und dann, schlagartig, zieht sich mein Blut zusammen. Angewurzelt bleibe ich stehen, meine Hand umklammert den eben ausgerissenen Klee, Muskeln spannen sich an. Wo ist er? Oben? Vorne? Hinten? Hinten! Hinter mir! Ich reiße den Kopf herum und sehe … nichts. Den Klee zerquetschend richte ich mich auf und blicke suchend um mich, bis ich ihn endlich sehe. Der aggressive Hornissenschwarm war ein kleines metallenes Objekt weit oberhalb meines Kopfes und trug eine Kamera auf der Unterseite. Da der Nachbar weder ein Verständnis dafür hatte, dass ich seine Begeisterung für das neue Drohnen-Hobby nicht teilen wollte, noch das Gehör für meine inständige Bitte, mit diesem Teufelszeug bitte andernorts zu spielen, durfte ich dem Faszinosum meiner urinstinktiven Fluchtreflexe noch viele, viele Male beiwohnen. Auch als ich wusste, dass es sich um eine harmlose Drohne handelte, und obwohl ich in meinem ganzen Leben noch nie einem aggressiven Hornissenschwarm begegnet war, reagierte mein Körper stets gleich darauf – »Alarm! Hornissen! Schwarm! Aggressiv! Flucht!«. Da konnte ich ihm erzählen, was ich wollte.

Erstaunlich, wie schnell man auf gewisse Geräusche reagiert. Auf dem Weg zum Briefkasten knackst es unter dem rechten Schuh und in derselben Sekunde schießt mir Mitleid und Bedauern ins Hirn: »Oh nein! Bitte keine Weinbergschnecke! Lass es ein trockenes Lorbeerkirschenblatt sein!« Im Nistkasten über meinem Kopf piepst es hochoktavig und zack! schüttet mein Körper Oxytocin aus (ebenso bei weinenden Katzen, jaulenden Hunden oder angstquiekenden Schweinen – das Mamahormon sitzt bei mir sehr locker). Und wenn das Telefon im übernächsten Haus läutet, schrecke ich immer auf und will ins Haus rennen.

Inzwischen ist das Nachtkerzen-Gestern viel gestriger und heute ein anderes Heute. Die Vögel zwitschern nur noch am Tag – es hat sich ausgebalzt –, der erste August liegt hinter uns und mit ihm das unerträgliche Gekrache und -knalle und -heule. Warum man einen Nationalfeiertag nur feiern kann, indem man sich akustisch in ein Kriegsgebiet versetzt, ist mir schleierhaft, aber wird wohl auch mit so was Instinktigem zu tun haben.
Interessanterweise ist auch ein anderer Lärm verschwunden, wenigstens bis auf weiteres. Ich weiß nicht, wie’s kam, aber irgendwann beschlossen fast alle unsere Nachbarn, fast zeitgleich dieses eine Gerät zu benutzen, dessen Existenz mir genau so zuwider ist wie die Begleitumstände des ersten Augusts: Diese eine benzin-, kabel- oder akkubetriebene Unseligkeit mit Plastikschnur. In den letzten drei Wochen wurde geplastikschnurt, dass einem die Gehörgänge platzten. Oben, rechts, links … und das auch dann, als wir Städter zu Besuch hatten, die sich auf ein lauschig-ländliches Wochenende eingestellt hatten.
»WIR SIND HIER«, schrien wir unter der blühbrummenden Wisteria, »MITTEN AUF DEM LANDE. DA IST ES SO HERRLICH RUHIG. NICHT WAHR?
MÖCHTE NOCH JEMAND ETWAS SEKT?«

Es ist ruhig. Man wäre fast versucht zu sagen, es sei still, wäre man sich der ausgeblendeten Geräusche nicht bewusst. Drei Meter weiter reibt ein Grashüpfer mit seinen Beinen nachdrücklich über die Flügel, einzelne Vögel schnattern, pfeifen und keckern, etwa so wie das Nachbarskind dort drüben, hin und wieder fahren oben Autos durch, auf irgendeiner Baustelle wird gearbeitet, weit entfernt sägt jemand etwas, viel weiter entfernt rauscht wolkig ein Flugzeug und ich höre mich selber schlucken.
Ich hätte wirklich gerne das Nachtkerzen-Plopp gehört.

13 Kommentare

  1. Hach, die Geräusche!

    Liebe Nick, das war ja mal überfällig. Ich habe auch so ein Gehör, das immerzu und überall die Umgebung checkt. Wie sehr es das tut, fiel mir auf, als ich mit neuem Smartphone ausgestattet, unterwegs via Ohrstöpseln Musik hörte – nichts für mich! Ich stolperte, hätte mich beinahe überfahren lassen, einfach, weil ich nichts außerhalb der Ohrstöpsel hörte.
    Andererseits habe ich es schon geschafft, nachts aufzuwachen, weil ich eine Raupe hörte, wie sie an einem schönen frischgrünen Epiphyllumblatt nagte. Die Pflanze stand auf dem Fensterbrett, nicht weit vom Bett weg, jeden Tag habe ich mich über die Fraßspuren geärgert, nie den Verursacher gefunden. Was habe ich mich über mein “Ammengehör” (so nennt das der Mann, der das Haus mit mir teilt und verdreht dabei die Augen) gefreut. Es ist doch etwas Schönes, mit solchen Sinnen gesegnet zu sein. Mögen sie uns noch lange erhalten bleiben.

    1. Ja, während ich den Text schrieb, wunderte ich mich auch, dass die Geräusche mehr als zwei Jahre brauchten, um mal beschrieben zu werden, auch wenn ich nicht über ein so erstaunliches Ammengehör verfüge (welch schönes Wort!).
      Von einer mümmelnden Raupe geweckt werden … das soll dir mal jemand nachmachen!

  2. Liebe Nick,

    als Frau, die letztes Jahr ihren geliebten Garten aufgeben musste und nun in einer städtischen Etagenwohnung lebt, wo ab morgens 5 Uhr keine Vögel sondern nur die Automotoren der zur Arbeit eilenden Städter zu hören sind, und als Frau mit empfindlichen Ohren habe ich die Beobachtung besonders genossen, weil sie mich in meinen alten Garten zurück versetzt hat, den ich vor 28 Jahren im August gekauft hatte, gerade weil unter der alten riesigen Birke die Insekten summten, denen ich, auf den Stufen zum unteren Garten sitzend, über eine Stunde lauschte, ehe ich beschloss: diesen Garten muss ich haben.
    Zum Trost kann ich aber jetzt, wann immer ich möchte, in den Garten meines Sohnes fahren und der sehr vielfältigen Vogelpopulation dort lauschen – und des öfteren natürlich auch seinem Rasenmäher, da er sich zum Rasenfetischisten entwickelt.:))))

    Danke für die schöne Rückerinnerung.

    1. Callis, beim Lesen deiner Zeilen wird mir ganz wehmütig zumute. Danke dir für dieses schöne Bild: Im August vor 28 Jahren auf den Stufen sitzen, lauschen und dort warten, bis dir das Herz sagt, dass ihr zueinander gehört.

  3. Zum Thema Drohne mit Kamera:

    Ich kenne die Rechtslage in der Schweiz nicht, aber in Deutschland ist es definitiv verboten, als Privatmensch eine Drohne über Menschen fliegen zu lassen. Es gibt ein Recht auf Achtung der Privatsphäre und ein Recht am eigenen Bild.

    Ich hätte den Nachbarn nicht höflich gebeten, mit dem Drohnenfliegen aufzuhören, sondern ihn angezeigt.

    1. Liebe Monika … ich glaube es selbst kaum, dass ich das schreibe, aber
      in der sonst so gestrengen Schweiz darf man als Privatmensch über fremden Privatgrundstücken rumdrohnen, wie einem lustig ist, solange das Gerät unter 30 kg wiegt und man Menschen nicht so aufnimmt, dass man sie erkennen könnte (was natürlich von niemandem überprüft wird, logo).

  4. Liebe Nick,
    so, so – du bist also auch solch eine säuerliche Spaßbremse, der sich partout nicht erschließen will, warum ein Mehr an Dezibel Big Fun sei und der Erhöhung der Lebensqualität ungemein förderlich?
    Doch verdienen die Knallköppe einige Nachsicht, befinden sie sich doch in einem unverschuldeten Zustand arachischer mentaler Beschränktheit und benötigen den Lärm, um sich vielfältiger böser Geister zu erwehren.
    Auch bedarf manch moderner Mensch der kontinuierlichen Bedröhnung und Dauerbeschallung wo und in welcher Form auch immer, denn unerträglich ohrenbetäubend rauscht ihm die innere Stille.

  5. Gelesen! ( Und schade sind deine Hühner nicht bestechlich…)
    Neben dem Nicktext lese ich auch die Kommentare dazu immer wieder gern.
    Momentan vorherrschendes Geräusch im Garten: Landregen. (Schade ist der nass, wäre eine schöne Geräuschkulisse für Gartenarbeiten, eigentlich.) 😉

    LG neo

    1. Die Erste!
      Ich wollte schon vom Glauben abfallen! ;-D
      Und wie recht du hast. Landregen ist eines meiner Lieblingsgeräusche.

      (Erklärung: neo hat als Erste mit dem Loswort “Gelesen!” an der Auslosung zweier Grüntöne-Büchlein teilgenommen, die bei “Vom Schreibtisch” ausgeschrieben war.)

    1. Kicher.

      P.S.:
      So charmant hat mich noch nie jemand beleidigt … säuerliche Spassbremse … soso. 😉

      (Erklärung: Birgit hat mit dem Loswort “Gelesen!” an der Auslosung zweier Grüntöne-Büchlein teilgenommen, die bei “Vom Schreibtisch” ausgeschrieben war.)

  6. Hallo,
    Ich habe lange, lange auf ein Nachtkerzen-Plopp gewartet, mir die Füsse in den Bauch gestanden – nichts. Weder ein Plopp, noch eine sich entfaltende Nachtkerzen-Blüte. So viele Jahre habe ich nun schon einen Garten und ebensolange Nachtkerzen. Freue mich an dem schönen, leuchtenden Gelb, aber noch nie habe ich mir die Zeit genommen oder wäre auf die Idee gekommen, auf das Entfalten einer Blüte zu warten. Aber ich habe nicht aufgegeben. Es hat mir einfach keine Ruhe gelassen, bin zu verschiedenen Zeiten da gestanden und habe konzentriert auf die Knospen gestarrt. Und siehe da – endlich bestaunte ich mit eigenen Augen das kleine Wunder. Kein Plopp auch bei mir, aber auf den letzten Kick – das Summen eines Insektes, das wohl auch wie ich gewartet hat. Faszinierend.

    Mein Lieblingsgeräusch ist das Rauschen der Blätter, wenn der Wind darüber streicht . . .

    Saattermin

    1. Dann war das ja auch dein erstes Nachtkerzen-Mal! Und das Wunder untermalt von einem Insektengesummsel? Perfekter geht ja kaum mehr.
      (Gerade streift der Wind durch die Glyzinen-Blätter … oh ja, ein wunderbares, beruhigendes und zuversichtliches Geräusch zugleich.)

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