Auf zu neuen Beeten

Fast ganz genau zur selben Zeit, als die ersten zwei Grüntöne erschienen, zogen die Velociraptorinnen in den Garten, brachten organischen Dünger, einen künftig taumelerregenden Schneckenschwund und viel Freude mit sich. Zum Beispiel darüber, dass die Erfüllung meiner lang gehegten Landidyllensehnsucht zum Greifen nahe lag. Bald konnte es so sein wie früher in den guten alten Tagen, als sich das Federvieh überall frei auf dem Hof bewegen durfte, zufrieden im Straßensand scharrte und kurz auseinanderstob, wenn der Bauer mit seinem Ochsengespann und drei Diskushernien vom Acker zurückkam. Seufzend stellte ich mir dieses und ähnliche Bilder vor, im festen Wissen, dass mein Leben nur darum nicht perfekt sein konnte, weil es mir an frei herumhühnernden Hühnern mangelte. Womit ich weniger falsch lag, als man annehmen könnte.

Doch da war ein Wölkchen am Himmel, korrigiere: zwei. Höchst ungewiss war, ob wir es jemals schaffen würden, dass unsere zwei Hunde ihren gesunden Jagdinstinkt gönnerhaft vergessen und in den vier Hühnern Mitbewohner statt, nun ja, verheißungsvoller Poulets sehen würden. Die Aussichten zumindest waren düster. Zwei Wochen lang mochten Fuchur und Hopkins in ihrer großzügig bemessenen Freizeit kaum anderes tun, als unbeweglich außen am Flexizaun zu hängen und beharrlich reinzustarren. So beunruhigend der Anblick war, er hatte auch etwas Erheiterndes. Und Beeindruckendes. Die beiden suchten so verbissen bemüht, die Zweibeiner zu hypnotisieren, dass sie sich beim abendlichen Inshauskommen erschöpft hinwarfen und augenblicklich in Tiefschlaf fielen. Doch sie trug Früchte, diese Beharrlichkeit. Wider Erwarten gelang die Hypnose, wenn auch nicht in beabsichtigter Weise. Keine Ahnung, wie genau es die vier Mädels hingekriegt haben, aber nach diesen zwei Wochen bedurften sie keines schützenden Flexizauns mehr.
»Hund schlurft mitten durch Hühnergruppe« wurde zum alltäglichen Bild. Ebenso wie das Stillleben »Menschen am Gartentisch, pickende Hühner darunter – und mitunter auch darauf«. … Gezähmte Raptorinnen kennen keine Grenzen.

Man gewöhnt sich. Als Mensch sowieso und ganz schnell. Dass man im Garten zuverlässig begleitet wird, mit diesem steten vergnügt-launigen Gackplauder im Ohr, dass man sich freut, immer miteinander, weil etwa eine Dickmaulrüsslerlarve zutage gefördert wurde, dass einmal mehr der gebückte Jät-Rücken als perfekter Aussichtspunkt erachtet und sich hingeflattert draufgesetzt wird … und dass alles und jedes, was man tut, kommentiert wird, nun, daran gewöhnt man sich erstaunlich schnell und mag fortan nicht mehr drauf verzichten. Und so kam es, dass ich die Arbeiten im unteren Gartenteil auf das unumgängliche Minimum beschränkte, was mit der Zeit die erwartet beschämenden Folgen nach sich zog. Doch was wollte ich, dahin setzte man einfach keinen Krallenfuß. Aus Prinzip offensichtlich, obwohl es eines ist, das sich mir bis heute nicht erschließen wollte.

Erstaunlicherweise nämlich kennen Raptorinnen doch Grenzen. Unsere haben sogar ein beeindruckendes Gespür dafür, sofern es um die Grenzziehung unseres Grundstücks geht. Ich war schon versucht, es ihrem Geruchssinn zuzuschreiben. Warum sonst sollten sie alles meiden, was jenseits der Hecke liegt? Etwaig fehlende Flugkünste waren kein Grund, dafür waren sie zu geübte Fliegerinnen. (Nur so als Tipp, falls noch nicht erlebt: Es ist schon ein beeindruckender Anblick, wenn einem ein Könnerflughuhn auf Augenhöhe entgegenfliegt. Oder knapp dran vorbei. Ein bisschen so, wie wenn eine überdimensionale, leicht angeschickerte Hitchcock-Hummel auf einen zudröhnt. Mit einem Riesenpuschelpopo.) Seltsam ist es, dieses Grenzgespür, umso mehr als Hühner – wer welche hat, weiß, wovon ich rede – die Neugier in Person sind. Alles, was neu ist oder neu anmutet oder höchst eventuell neu sein könnte, all das muss sofort begutachtet werden. Sofort. Der Wissensdurst ist eine velociraptorische Erfindung. Gäbe es keine Hühner, hätten wir heute keine Staubsauger. Ganz zu schweigen von Rasenmähern.

Wie auch immer, zwischen dem oberen und unteren Teil unseres Gartens muss sich die restlichen vier Jahre eine unsichtbare Grenze befunden haben, die höchstens mal aus gedankenverlorenem Versehen oder eines flugtechnischen Ausrutschers wegen überschritten wurde. Bis zu diesem März.
Es war ein unschuldiger Spätnachmittag, als ich aus dem Küchenfenster sah und, gedankenleer die Kaffeetasse abwaschend, meinen Blick über die Kräutergartenbeete streifen ließ. Da stand ein Huhn. Weiß mit schwarzen Tupfen, emsig beschäftigt mit Scharren, Schauen und Erbeuten. In solch einer malerischen Selbstverständlichkeit, dass ich ein Weilchen brauchte, bis mir ein verwundertes »Phoebe!« entfuhr. Ja, es war eine der meinen, nicht mal die neugierigste, aber mit geradezu hypnotischer Überzeugungskraft. Keinen Tag später führte sie ihre Mitstreiterinnen Mü und Penny hinunter ins gelobte Land. Mitten in die Winterportulak-Plantagenherrlichkeit.

Warum damals vor vielen Jahren so ein Winterportulaksame aus dem Hochbeet im oberen Gartenteil entwischen und hinunter unter die Blaufichte gelangen konnte, versuchte ich gar nicht erst zu ergründen. Ich fand es einfach nur kurios, zumal er mich kulinarisch nicht umzuhauen vermochte. Jedenfalls nicht genug, um ihn noch einmal anbauen zu wollen. Er baute sich also selber an, und zwar an einem Ort, an dem bislang nur ein Holunder wachsen wollte, den ich jahrelang vergeblich versucht hatte daran zu hindern. Ich fand dies weiterhin kurios und nicht viel mehr, bis ich im zweiten Hühnerfrühling unserer Gartenzeitrechnung die spontane Eingebung hatte, eine Handvoll für die Mädels abzureißen. Beim Hinaufgehen kostete ich die tellerförmigen fleischigen Blättchen und fand sie interessanterweise richtig lecker, wären da nicht die Fichtennadeln gewesen, die einem hin und wieder seitlich in die Zunge pieksten. Fast war ich versucht, sie dem kochenden Nichtgärtner in die Küche zu legen, fand es dann aber praktischer – schon allein fichtennadeltechnisch –, doch lieber die Hühner damit zu verwöhnen. Das tat ich dann auch und schaute begeistert dabei zu, wie mir der urgesunde Frühlingswildsalat mit Blatt und Stiel aus der Hand gerissen und gierig hinuntergeschlungen wurde.
Wie freuten sich die drei Kräutergarten-Entdeckerinnen, als sich vor ihren geschuppten Füßen diese Tellerchen offenbarten, noch fest im Erdreich verwurzelt! Wie freuten wir uns in der Küche über die leckeren Eier, mit portulakschen Inhaltsstoffen verfeinert. Inzwischen ist er in Blüte gegangen und somit von einem Tag auf den anderen uninteressant geworden (zu Recht, die ledrig gewordenen Tellerchen haben ihre charmante Frühlingsfrische gänzlich verloren) aber der Verheißungen sind noch viele.

Einzig Gloria locken sie bis zum heutigen Tage nicht, stur bleibt sie als Einzige oben und geht ihren eigenen Interessen nach. Aber wer schon mal von einem Tigerschnegel umgarnt worden war, hat sie wohl gesehen, die Welt. Das kümmert die drei anderen nicht. Mindestens einmal täglich schreiten sie im dekorativen Gänsemarsch hinunter, vergnügen sich eine Weile mit der Jagd nach Leckereien und tippeln danach friedlich wieder hinauf. Seit ich diesen Text am Schreiben bin, hat man das Sandbaden ausgerechnet neben der – bisher – unkompliziert gewachsenen Chrysantheme, die Siesta im Schlagschatten der Blaufichte und das interessierte Innehalten auf dem Parkplatz entdeckt.

Das Schönste am Ganzen ist nun nicht, wie zu erwarten war, meine wiedererwachte Freude an den unteren Gartenarbeiten, sondern dass meine Velociraptorinnen inzwischen auch vielen anderen Freude bereiten. Hielten sie sich in den vergangenen vier Jahren ausschließlich im nicht einsehbaren Garten auf, bringen sie nun mit ihrer bloßen Anwesenheit Nachbarn und Passanten zum innehaltenden Lächeln und erstaunten Schmunzeln, denn wirklich freilaufende Hühner begegnen einem in der Regel nicht sehr oft, ganz zu schweigen von so schönen. (Ja. Da endet meine schweizerische Bescheidenheit. Meine Mädels sind die schönsten Hühner der ganzen Welt. Falsch. Des ganzen Weltalls.)
Gut, wir hatten kürzlich Ostern, da fühlen sich alle irgendwie zu Hühnern hingezogen, aber ich wette zehn frische Landeier, dass es auch in den folgenden Wochen und Monaten Menschen geben wird, die stehenbleiben, einander anstupsen und gemeinsam für kurze Zeit die Zeit vergessen. Oder auch ganz alleine. Zum Beispiel im Auto. Denn niemand fährt ein aus Versehen auf die Straße gewatscheltes oder geflattertes Huhn tot. Da wird gebremst und gewartet. Gewartet, etwas daumengetrommelt und gewartet, bis die Dame mit Hüftgold irgendwann beschließt, sich an den Straßenrand zu begeben. Gemächlich, denn Hühner sind Entschleuniger. Und was für welche.
Man könnte sie sich glatt zum Vorbild nehmen.

Einige Geschichten kommen zum Ende, indem sie da aufhören, wo sie begonnen haben. Zumindest die, die das wahre Leben schreibt.
Ich war am Ernten des Komposts und dachte über ein passendes Ende für diesen Text nach, als unser neuestes Familienmitglied Mortimer Bailey zu mir kam, sich an mein Bein lehnte und begeistert hechelnd den Inhalt betrachtete. Die Begeisterung galt nicht dem Kompost, alles andere hätte mich in Verzückung versetzt, sondern Gloria, die mittendrin saß und jede meiner Bewegungen mit Argusaugen verfolgt hatte (recht witzig, wenn man bedenkt, dass nicht nur ein hundertäugiger Riese, sondern auch Odysseus’ Jagdhund auf den Namen Argos hörte. Dem nicht genug, der starb auch noch auf einem Misthaufen … also sozusagen auf einem Kompost! Aber wir wollen nicht abschweifen). Unangenehm berührt ob so viel unerwünschter Aufmerksamkeit hielt die Henne inne, drehte uns langsam den Rücken zu und flog erstaunlich geschickt auf das oberste Brett. Dort drehte sie sich wieder um und thronte. Oder wartete einfach ab … der Unterschied ist nicht immer so klar. Mo, vor Spannung fast platzend und das Atmen vergessend, starrte sie beharrlich an. Unbeweglich. In der verbissenen Bemühung, sie zu hypnotisieren.
Wir wissen, wie das endet.

Ungebrochenen Gartengagaismus, nie müde werdende Neugier, unzählige entschleunigte Momente und – in jeder Hinsicht – immer mal wieder ein neues Beet,
das wünschen wir euch!

Herzlich
Nick & die Muse auf der Schulter

9 Kommentare

  1. Liebe Nick,

    wie immer ein geradezu wundersam schöner Text.

    Ich danke Dir dafür sowie für den ganzen grünbunten Strauß, den Du uns in den letzten Jahren geschenkt hast.

    Ich wünsche Dir beim Bearbeiten der neuen Beete nur wenig ärgerliche Wurzelunkräuter, wenige Schnecken, viele gut gewachsene Pflanzen und natürlich das Wow-Erlebnis, wenn man eines Tages vor dem blühenden, wogenden Beet steht und staunend sagt: “Wow, und das ist auf meinem Mist gewachsen? Toll!”

    Vergiss uns nicht – ich werde Dich jedenfalls in bester Erinnerung behalten.

    Liebe Grüße
    Erhama, die jetzt eine Schneckenfreundin ist

    1. Liebe Nick, liebe Muse,
      auch mit diesem Text habt ihr mir wieder aus dem Herzen gesprochen, denn auch ich habe freilaufende Hühner, wenn sie auch einen eigenen Garten haben.
      Ich wünsche Dir viel Freude, reiche Ernte und wenig Mißerfolge in den neuen Beeten und werde euch sehr vermissen.
      Lasst es euch gut gehen!
      LGr. aus dem oberbergischen Land
      Stephanie

  2. Liebe Nick,

    den Worten der nunmehr Schneckenfreundin ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen außer: Schade. Ich habe diese Geschichten immer gern gelesen.

    Ganz liebe Grüße aus dem Schratwald

  3. Geschätzte Nicole

    Je ein Hälmchen für die Weltall Besten Raptorinnen. ? ? ? ?
    Für die Schreiberin ? ? ?
    Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass wir uns Samstag in Frankreich sehen werden. ?

    Liebe Grüsse
    Natternkopf

  4. “Meine Mädels sind die schönsten Hühner der ganzen Welt. Falsch. Des ganzen Weltalls.”
    Nach “Schweine im Weltall” nun also auch Hühner:

    „Der Weltraum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2018. Dies sind die Abenteuer der Greensound, die mit ihrer Velociraptorenbesatzung…”

    Abgründe…

  5. Ich danke auch sehr für die (beseelten) Garteneinblicke der etwas anderen Art, Nick.
    “Drum Herz nimm Abschied…”;)
    Dein Text ist ein schönes Ende für den Neuanfang.

  6. Liebe Nick,

    vielen Dank für diesen wie immer wunderbar treffenden Text. Ich werde Deine Grüntöne sehr vermissen und wünsche Dir prachtvolle neue Beete.

    Liebe Grüße aus Bremen
    Rosenfee

  7. Schließt sich ein Kapitel, macht das recht wehmütig, andererseits aber auch nicht wenig neugierig darauf, was der neue Abschnitt bringen könnte.

    So will ich dir vor allem ungemein danken für die erhellenden grünen Gedanken und die so erheiternde Formulierungskunst. Und vor allem wünsche ich dir für morgen ein hemmungsloses Shoppen in Schoppenwihr, auf dass sich neue Beete vielfältig füllen mögen!

  8. Nick, Nick, Nick
    pass auf, denn wie man sich beetet, so liegt man!
    Eine, die so leidenschaftlich zu bloggen wusste, bekommt leicht entsprechende Entzugserscheinungen, auch wenn sie einen noch so anspruchsvollen, arbeitsintensiven, verträumten Garten zu pflegen und alle Hände voll zu tun hat… Überlegs dir gut!
    (Manchmal, nur manchmal nützt warnen. Ich möchte nämlich meinen grün tönenden Entzugserscheinungen vorbeugen.)

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert