Pikierende Entscheidungen

In meinem Gartentagebuch findet sich dieser Eintrag vom allerersten Gartenjahr: „Habe heute 173 Rittersporne pikiert. Was ich da wieder gespart habe!“
(Spätestens jetzt wird jedem klar, warum ich bis heute ein Gartentagebuch führe und dies vornehmlich zu dem Zweck, darin zurückblättern zu können. Herrlich, dass man sich selber dermaßen erheitern kann. Gespart. Kicher.) Oh, selig machende Unwissenheit, der es nicht mal in den Sinn kam, sich den Kopf über das Wohin dieser berittenen Horde zu zerbrechen.
Die Frage wurde mir übrigens gnädig abgenommen: Es kamen bloß sechs Stück durch – Unwissenheit eben – und fanden auch alle ein adäquates Plätzchen.

Gut möglich, dass mich diese Erfahrung die nächsten drei Jahre dazu trieb, restlos alle Sämlinge zu pikieren. Wahrscheinlicher ist eher, dass ich mich davor drückte, die finale Entscheidung zwischen Tod und Leben zu fällen. (Ok. Eine gewisse Gier könnte da auch eine Rolle gespielt haben. Klammer zu.) Aber man wird halt leider wissender und kann das mit dem Pikieren und dann steht man da mit 40 Töpfchen voller properer Nepeta nervosa und runzelt die Stirn (im ersten Gartenjahr hätt ich noch Pflanzplätze für die gefunden; mag durchaus der Grund sein, warum sich erst in den letzten fünf Jahren meine Stirnrunzelfalten tiefer eingegraben haben). Und wenn’s bloß das wäre. Da man ja inzwischen nebst Ein-/Zweijährigen und Stauden auch noch Gemüse vortreibt, gerät man irgendwann in einen logistischen Töpfchen- und Stellplatzbedarfs-Konflikt.

Es kam also der Moment, in dem ich mich zu entscheiden hatte. Sozusagen Gott bzw. Richter zu spielen über das künftige Da- oder Nichtsein dieser – wohlgemerkt von mir – zum Keimen gebrachten Sämlinge. Ich bin auch noch schuld an der Misere. Himmelherrgott. Nun denn. Man wischt diese kontraproduktiven Gedanken weg, ist tapfer und nimmt sich vorgängig vor, nur den größten und stärksten Sämlingen das Glück echter Erde und (fast) unbeschränkter Wurzelfreiheit zu gönnen. So willig der Geist ist, so schwach sind die pikierenden Finger. Ein lustvoller Serienkiller hätte da weniger Hemmungen, aber ich kann bis heute dem Töten nichts Erhebendes abgewinnen.

Und weil man eh schon ein schlechtes Gewissen hat, stellt man sich vor, wie diese wurzelnackten Aussortierten auf dem Kompost jämmerlich verdursten und von der Sonne zu Tode gebrannt werden. Doppelseufz. Bei einiger Fantasie wird es noch dramatischer. Man sieht das Aussortierte sich erheben und mit bedeutungsschwangerer Stimme verlauten: „Ich verfluche dich bis ins zehnte Zehenglied, du nichtswürdiger Mensch auf diesem vermaledeiten Erdenrund, auf dem ich eh nie hätte Photosynthese betreiben wollen. Ätsch!“ Au Backe. Und als ob das nicht genug wäre, kommt die letzte, grausame Frage, die selbst den Hartgesottensten dilemmatisch wanken lässt: „Und was ist, wenn genau dieses scheinbar schwache Ding am Ende das Stärkste und Schönste wird? Hä? Und das willst du wirklich auf den Kompost werfen?“ (Leider hab ich das schon erlebt und mir stolz auf die Schulter geklopft, dass ich zu schwach dafür war, das schwächste Glied auszusortieren.) „Survival of the fittest“ funktioniert in der ungestörten Natur aufs Wunderbarste – sobald ein gerne mal irrendes Enscheidungsträger-Hirn gepaart mit Gefühlen dazu kommt, sieht’s duster aus.

Nun denn. Heute war wieder einer der großen Pikiertage. Ich hatte diesen Text schon im Hinterkopf und dachte, für heute würde mal alles ganz anders. „Du darfst bloß fünf Moldawische Drachenköpfe eintopfen, der Rest wird gnadenlos gehimmelt.“ (Es wurden zwölf. Und pssst: Ich hab noch ein Aussaatgefäß mit Sicherungskopien.) „Von den Tagetes nimmst du zehn. Punkt. Warum zur Hölle hast du eigentlich Tagetes vorgezogen?“ (Keine Ahnung. Die restlichen setzte ich in die Gemüsebeete, wo sie vielleicht von den schwarzen Nanoschnecken verputzt werden. Vielleicht – survival of the fittest.) So in etwa ging’s weiter. Einmal mehr jämmerlich versagt. Und etliche Aussortierte liegen als Schneckenmagnet in den Hochbeeten (ja. Anderes Thema: Schnecken und Hochbeete. Überhaupt Schnecken. Verschieben wir auf später.) … ich will gar nicht drüber nachdenken. Die einen werfen Giraffen reißenden Löwen vor, ich Sämlinge raspelnden Schnecken.

Was bin ich doch für ein schlechter Mensch. Und darob höchst pikiert.

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