Naseweise

Um es gleich vorweg zu nehmen: Nein, ich bin kein Jean-Baptiste Grenouille und das nicht nur deswegen, weil ich nicht alle naselang sorgfältig ausgewählte Jungfrauen meuchle – ich bin ja schon destabilisiert, wenn ich aus Versehen mal auf eine Schnirkelschnecke trete. Auch was das Riechen betrifft, so komme ich nicht mal ansatzweise an seinen Zinken ran. Trotzdem, ich bin ein recht nasaler Mensch.

Während sich andere damit begnügen, einen Gegenstand einfach nur anzusehen, drängt es mich unwillkürlich, ihn nicht nur zu befingern, sondern auch dran rumzuschnüffeln. Nach einigen, relativ peinlichen Vorfällen gehe ich darum auch nicht mehr so gerne in Museen. Ja, Museen, die haben’s in sich. Es war in der Grundschule, wir machten einen pädagogisch-wertvollen Ausflug und wurden von einem Musemsführer in die Geheimnisse zerfledderter Bücher, gruseliger Mumien, Krypten und anderes eingeweiht. Er trug ein graues, dickstoffiges Jackett, passend graue Haare dazu, hatte eine eindrucksvolle Adlernase und vermutlich vorvorgestern das letzte Mal geduscht. Da ich bis dahin noch nie mit solch erschlagendem Schweißgeruch konfrontiert worden war, wusste ich nicht, dass darauf das Etikett „eklig“ klebt und man sich sofort die Nase zuzukneifen hat. Noch nie zuvor hatte ich so was faszinierend Abstoßendes gerochen. Einmal kurz schnüffeln genügte, dass mir der Atem stockte und die Schnipo vom Mittag hochkommen wollten. Mit Ketchup. Weil ich es nicht glaubte, wiederholte ich den Versuch noch einige Male und kriegte kaum was von der sagenhaften Kultur unserer Vorfahren mit.

Ganz ähnlich erging es mir vor kurzem, irgendwann letzten Juni. Selbstvergessen vor mich hin werkelnd stieg eine Mischung in meine Nase, die mich erschaudern und zugleich nicht mehr losließ. Genau erinnern kann ich mich an die einzelnen Komponenten nicht mehr, aber ich meine, ich hatte Bilder von verwesendem Aas, angesengtem Gummi, länger liegen gelassenen Müllsäcken und etwas Undefinierbarem vor Augen. Suchend schaute ich um mich, um das Epizentrum ausfindig machen zu können, sah aber nur Rasen, Bäume, Sträucher und steinerne Platten. Hm. Weiter arbeiten lag nicht drin, das Rätsel wollte gelöst sein, also los, mit hoher Nase und bebenden Flügeln in der Gegend rumzickzacken. Gelandet bin ich wider Erwarten vor einem Strauch und konnte wenigstens das Undefinierbare zuordnen: blumelig … ein Philadelphus war der strauchige Museumsführer. Ein halbe Woche darauf war ich an einem anderen Ort, erlebte haargenau dasselbe, guckte mich um und wurde bestätigt: Gott sei Dank hatte ich mir keinen solchen in den Garten geholt, obwohl der mir früher ungeheuer gefallen hatte.

Königslilien könnte man in eine ähnliche Kategorie schubsen. Die knallen einem ihre Duftmoleküle dermaßen in die Nasenschleimhäute, dass es einem unweigerlich die Augen zukneift. Da sie aber in meinem eigenen Garten wachsen, riechen sie. Ganz toll. Weil ich zur Blütezeit immer einen großzügigen Bogen um sie mache und den Fehler, einen dicken Strauß davon ins Wohnzimmer zu stellen, nur einmal beging. (Die heißen nur darum Königslilien, weil die Könige ganz früher – ich möchte keinen heutigen beleidigen – derart verstunken waren und wurden, dass sie nurmehr hochprozentige Düfte wahrnehmen konnten. Nehm ich jetzt einfach mal an.) Kommen wir zurück zu „mein“. Was mir anvertraut ist und was ich selber verbockt habe, stinkt mir in der Regel nicht. Oder zumindest weniger als Fremdes. Überprüfend an den eigenen Stinksocken riechen, ist nicht schön, aber an denen, die von anderen Füßen bestunken wurden … Gott bewahre! Eltern können die Windeln ihrer Nachkommen wechseln, ohne mit der Wimper zu zittern, wischen sich ungerührt die Bananenübergeberei von der linken Schulter und zucken höchstens damit. Großeltern vermutlich auch. Als Babysitter fand ich das jeweils, na, nicht schön.

Vielleicht fragt ihr euch, warum ich mich gerade jetzt über Gerüche, Gedufte und Gestänke auslasse. Ganz einfach. Mir stinkt’s. Seit gefühlten Äonen geh ich in meiner Stunde durch den Garten und er sieht zum Blöken immerwährend gleich aus. Okay, der Laubmulch im Hanglagen-Hostabeet ist ein bisschen runtergerutscht, aber dafür brauchte er zwei Wochen. Der Rasen ist immergleich einfach so da, abgesehen von einigen Autobahnstellen, die stetig brauner und schlammiger werden. Klar, es tut sich was, die Helleboren knospen und einige blühen sogar schon unbelehrbar (hallo! erinnert euch! es kann noch ganz arg reinfrosten, ihr Hirnis!), genauso dummdreiste Zwiebelblumen spitzen raus … doch so insgesamt reißt das auch nix raus. Ich. Will. Äktschen.

Und was tut man, wenn das Auge nix hergibt und die Fingerspitzen nur über vertrocknete Staudenstängel streifen? Man wittert. Ich jedenfalls. Im Winter riecht die Luft so jungfräulich wie nie. Sie riecht nur nach einem: nach klirrend-eisigem Winter, rein, pur, vielleicht ein bisschen beißend, aber nur wegen der Kälte. In diesem Fast-Geruchsnichts nimmst du plötzlich eine warme Rauchnote wahr und weißt: Aha, die Nachbarn fünf Häuser weiter haben ihren Holzofen angeworfen. Es wird ein kleines bisschen wärmer, du gehst am Mulch vorbei und noch mit geschlossenen Augen weißt du: Da myzelt es milchig-gerbsauer-herb, da liegt Laub! Die winzigen Blütengebilde des Viburnum bodnantense verströmen einen leisen, aber umwerfenden Duft, der dich nur im Winter so verzaubern kann. Und irgendwie meinst du, die Stellen, wo die Frühlingsblüher rausspitzen, riechen … nach Frühling. Du witterst ihn schon … egal, wie lange es noch dauert, du weißt es. Er kommt. Und dann geht’s los. Das Schmachten wird ein Ende haben.
Bald.

Es gibt kaum etwas, was unserem Erinnerungsvermögen dergestalt auf die Sprünge hilft, wie Gerüche. Ihr kennt das. Jeder von uns hat bestimmte Gerüche gespeichert, die unverbrüchlich mit einer Erinnerung verknüpft sind. Bei mir sind es z.B. Parfüms, weil ich in einer Zeit groß geworden bin, in der es saumäßig angesagt war, seinen eigenen Körpergeruch literweise mit anderem zu übertünchen. Sobald ich an Flakon X rieche, bin ich wieder 13, weile in La Réunion und trage lachsfarbene Kleider. Fläschchen Y erinnert mich an meinen Ex-Ex-Ex, Z versetzt mich in … egal, ihr wisst, worauf ich hinaus will.
Als ich letzthin in der winterlichen Jungfrauenluft Sträucher schnitt, grub ich ein bisschen im Hippocampus rum, um mich an Gartengerüche erinnern zu können. Gab es einen speziellen Geruch, den ich sofort mit einem Gefühl oder einer Begebenheit verband? Auf Anhieb stieg mir die zu spät entdeckte, munter vor sich hinwesende Maus in die Nase, aber die hatte ich damals nicht im Garten entdeckt. Nein, so lange ich auch grub und suchte, zu meinem Erstaunen fand sich nichts gartenspezifisch Einzigartiges, das sich für immer und ewig eingebrannt hätte. Vielleicht liegt es daran, dass die Gerüche immer zur selben Zeit am selben Ort und oder aufgrund derselben Tätigkeit verströmt werden? Schon möglich.
Immerhin, es fand sich kein spezieller Geruch, dafür aber ein verbindendes Gartengeruchsgefühl namens „verwunderte Überraschung“. Etwa, als ich zum ersten Mal an der Rose „White Gold“ roch und mich Maiglöckchen ansprangen, oder als eben so eine „Black Baccara“ nach gar nix riechen mochte (eine Meilland-Frechheit sondergleichen), die Brennnesseljauchenhundefürze, das erste Vorbeistreifen an einem Tomatenblatt und die darauf folgende Duftexplosion, als schwämme man in einem Meer aus Sugo, mein von einer verärgerten Schwalbenschwanzraupe angepinkelter Finger, der noch zwei Tage danach hartnäckig müffelte, das psychedelisch wirkende Häckseln von Wacholder, … Herrgott, der Winter kann mich mal nasenkreuzweise. Will Frühling!

Früüühlingsgarten, ich will ihn tief einatmen, ihn schnuppernd mir einverleiben …

Warnung: Wer zart besaitet daherkommt, bitte nicht weiterlesen. Jede Haftung wird ausgeschlossen.

… genau. Einverleiben. Streng genommen tun wir das bei jedem Schnüffel, bei jedem Atemzug durch die Nase sogar. Nehme ich naseweise das Parfum einer Päonienblüte wahr, so nur deswegen, weil ich ihre Duftmoleküle in meine Nüstern ziehe. Nicht wahr? Das eröffnet einem doch ungeahnte Gedankengänge. Da stecken tatsächlich Pfingstrosenteile in meiner Nase! Und wenn ich die so richtig tief einatme und richtig viel Fantasie habe, dann schwimmen in meinen Adern plötzlich ganze Blüten. Ist ja der helle Wahnsinn.
Andererseits … der ungeduschte Museumsführer … schauder. Die verwesende Maus …

Es hilft kein Naserümpfen drüber hinweg: Ist vielleicht doch ganz gut, dass der Frühling noch etwas länger auf sich warten lässt.

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