Tiefgrundunheimlich

Ich sitze im Gemüsebeet, der Popo auf einer der ererbten, moosbedeckten Bahnschwellen, besehe mir einen Teil des heutigen Tagewerks und gebe mir alle Mühe, die in der untergehenden Sonne rumflirrenden Mikroflieger nicht einzuatmen. Zwei Beete sind gesauzahnt und mit eifriger Hilfe der Raptoren schädlingstechnisch gesäubert (den Kollateralschaden, viele nämliche Regenwürmer, kann der Boden verschmerzen. Ich auch ein bisschen). Während ich mir überlege, wie und womit ich die Beete morgen – nach dem Säen – am besten HH-, sprich Huhnhund-sicher mache, gefrieren die Gedanken. Auf der von Hand zerkrümelten Erde liegt ein Irgendwas-Sämling mit seinen vier zarten Wurzeln in der Höh. Und eine davon hat sich doch gerade bewegt. Nicht wegzudeuteln. Da hat sich eine bewegt! Ganz eindeutig! Mein Mund öffnet sich und gewährt unzähligen Minifliegertieren Einlass. Während ich zu Stein erstarrt den Puls in meinem Trommelfell höre, kommt von weit hinten durchs Hirn: „Nihick! Wir haben heute steife Brise!“

Nichtsdestotrotz saß der Schreck tief in den Knochen. Ich besah mir das entwurzelte Lebewesen, wie es jämmerlich auf dem Rücken lag, jeden Abendsonnenstrahlaufprall als Peitschenhieb empfinden musste, und dachte an pikierende Entscheidungen. Und an jenes Erlebnis vor einem Jahr, das dieselbe Wirkung auf mich hatte:

Wir hatten Besuch, zahlenmäßig nur kleinen, darum konnten einige vorgezogene Sämlinge auf dem Esstisch verbleiben. Während des angeregten Gesprächs mit Kaffee wanderten meine Blicke immer mal wieder zu den Pflänzchen, beiläufig. Man will sie ja nicht unter Druck setzen. Ich blickte also und hatte im Augenwinkel unter anderem die Ipomoeas lobata, die ich witzigerweise für genau diesen Besucher vorgezogen hatte. In ihren Viereck-Töpfen waren sie an den dünnen Stäben emporgerankt und hatten alle ein langes Endschwänzchen, das noch nicht sicher war, ob es sich der Kletterhilfe anheimgeben soll oder aber besser die unbekannte Wohnzimmerwelt erkunde.
Also. Immer mal wieder nicht unter Druck setzende Kontrollblicke, und dann das Erstarren. „Leute, die Dinger rühren sich! Guckt euch das an! Vor gerade mal zehn Minuten schaute die Triebspitze der einen Sternwinde nach rechts, wo ist sie jetzt?“ Die beiden Männer schauten, pausierten kurz, und sprachen weiter über ihre Militärgeschichten. Ich hörte halbohrig zu, wartete ab und unterbrach im entscheidenden Moment unsensibelst: „So. Jetzt ist sie wieder rechts. Na?“ Da ging die Luzi ab. Auf dem Esszimmertisch. Vor unser dreier Nasen. Mich fröstelte.

Natürlich können mir Pflanzen nie genug schnell wachsen, sich aus der Erde schälen, die Knospen öffnen, blühen, indirekt sexeln und sich vermehren, aber so schnell? Die Sternwinden haben in ihrem Bewegungsdrang ja gar ein Faultier überholt, könnten darum, streng genommen, wenn man’s mit der Biologie nicht so eng sieht, durchaus als Tiere durchgehen. Jetzt mal abgesehen vom Putzi-putzi-schnucki-schmus-Aspekt … will ich pflanzliche Tiere? Ohne Augen? Nä.

Nun, Augen haben sie, im übertragenen Sinne jedenfalls. Mittels ihrer Photorezeptoren können die uns durchaus registrieren. Ich laufe vorbei, Pflanze registriert: „Viel Licht, weniger Licht, kaum mehr Licht, wieder etwas mehr Licht, viel Licht.“ Ist jetzt nicht gerade von Tiefgründigkeit geprägt, aber alleine die Tatsache, dass mein Vorüberlaufen etwas auslöst, löst in mir ganz viel aus. Tiefgrundunheimliches. „Du bist nicht allein, Big Küchenschelle is watching you.“ Gut, Pulsatillas dürfen von mir aus sogar dabei denken, auch Angriffspläne schmieden, so richtig Schiss habe ich jetzt nicht vor denen. Aber es gibt andere.

Lang ist’s her, da legte ich mir ganz bewusst ein Giftpflanzenbeet an. Hatte mit Katharsis zu tun. Allein das Wissen darum, dass ich könnte, wenn ich wollte, half dabei, ganz besonders nervzehrende Zeitgenossen mit stoischer Geduld und einem maliziösen Lächeln zu ertragen. (Gut. Das mit der stoischen Geduld ist gelogen. Ich kann mich nicht geduldig aufregen, geschweige denn stoisch.) Es half jedenfalls. Und es lief mir anfangs stets ein wohliger Schauer den Rücken runter, wenn ich daran vorbeiging. Hätte ich das mit den Photorezeptoren schon damals gewusst, wäre der Schauer wohl unwohliger gewesen.

Ein stereotypischer Fehler. Wie in jedem guten Horrorfilm lauert die Gefahr da, wo du sie am wenigsten erwartest. Beim nur leicht verschrobenen, aber grundanständigen und höflichen Nachbarn, dem runzelblättrigen Viburnum, der mit seiner hinterhältigen Waffe, Trilliarden von süßen, kleinen Härchen, im besten Fall rote Pusteln und Juckreiz bereitet, im schlimmsten den Geruchsinn für mehrere Wochen raubt. Beim gemütlichen, immer fröhlich lachenden Lebemensch Humulus, der dir leckerstes Bier kredenzt und dabei mit seinen langen Armen wölfisch (lupulus eben) phototoxische Striemen versetzt, die noch lange als Brandnarben zu sehen sind. Oder bei der etwas dicklichen, älteren Dame in Rosa, die dich mit ihrem schweren Parfüm betäubt, um dann mit einem lächerlich kleinen Stachel eine Blutvergiftung herbeizuführen, die dir ohne die nötige Tetanus-Impfung und mindestens ein erkennendes Auge dein Lebenslichtlein auspustet.

Mein Verhältnis zu Rosen ist ein von Grund auf ambivalentes. Ich mag sie, sie danken es mit kräftigem, gesundem Wuchs, aber hinterrücks haben sie’s bloß auf Eines abgesehen: Mir einen bakterivirenverseuchten Stachel ins Fleisch zu drücken. Kein Problem, sollte ich zu weit entfernt sein, denn dafür hat man die langen Triebe, die man gekonnt in Haare oder Kleidung festhakt, so dass irgendwann notgedrungen befreiende Hände ins Spiel kommen. Diese Verschlagenheit! Als wüssten sie, dass man in solchen Momenten meist keine schützenden Handschuhe trägt.

Oh, ich war naiv. Die florale Natur, so dachte ich ernsthaft, ist von Grund auf gut und unermüdlich bestrebt, uns zu erfreuen oder devot zu dienen. Mit Essbarem, Heilkräftigem, Tötendem (auch Kriminelle sind Menschen) oder einfach Schönheit. Ganz genau. Darum hat sie auch die Cyanobakterien erschaffen, dieses algige Gebilde, das sich gewieft auf abschüssige, im Zwielicht liegende Kieswege spezialisiert hat. Drauf ausrutschen soll er, der Mensch, und sich üble Beulen holen. Pflanzenfreie Kieswege sind zu unterminieren und der Anleger drakonisch zu strafen. Ja, ich weiß, das ist nicht ihr Lebenszweck. Wobei … weiß ich es wirklich?

Was würden, wenn sie’s denn könnten, Pflanzen wohl denken? Ein „Ich bin so glücklich, dass mich dieser Mensch mit Kompost versorgt, mich von meinen toten Teilen befreit, im Winter einen Schutz über mich stülpt, sich über jeden neuen Trieb kringelig freut und mich beim Vorbeigehen mit einem lächelnden Zartstreichler über meine Blätter begrüßt!“? Ach ja? Nicht eher das da? (Es kommt ein Doppelpunkt.) „Jetzt fummelt der schon wieder an mir rum, verflucht, hat der sonst nix anderes zu tun? Iiieh, lass das, bleib mir weg mit der Schere, du Spastiker, beim letzten Mal hast du mitten in den dicksten Trieb geschnitten. Würg, und jetzt greift der mir an meine Weichteile. Menschen! Echt! Beim nächsten Übergriff hau ich dem meine allergenen Dinger um die Ohren, dass die nur noch so wackeln. Mindestens!“

Recht haben sie. Wer ehr- und redlich in den Gartenspiegel guckt, kann nichts anderes vermuten. Was maßen wir uns an, stehlen Obstbäumen die Jugend und das wohlverdiente Rentnerdasein nur zum Zweck der Gewinnoptimierung, verhindern die Samenbildung bei verschiedensten Blütenpflanzen, damit sie unermüdlich verzweifelt ein zweites, drittes, dauerndes Mal blühen, hacken Töchter und Söhne weg und werfen sie auf den Kompost, verüben regelmäßig Genozid, weil „ich will jetzt ums Verrecken bloß die ungefüllten Blauen“, verstümmeln, weil uns was im Weg ist. Unheimlich, was wir denen antun … wäre ich eine Pflanze, könnten mich diese Gärtner mal. Übers Kreuz.

Wir sind Schweine. Seitdem ich das eingesehen und akzeptiert habe, geht’s mir besser. Damit lässt sich auch das Bild von der allgütigen Pflanzennatur leichter in die Biotonne kippen. Und frohgemut schließe ich den Deckel. Nein. Ich will keine Pflanzen, die mich dackelblickig anhimmeln (obwohl gerade Dackel vom Anhimmeln recht wenig halten). Ich will eigenständige Wildlinge, die zu Beginn rein gar nichts von mir halten, um dann irgendwann rauszufinden: „Hm. Dieses Wesen geht mir zwar oft genug auf die Staubgefäße, aber eigentlich ist es ganz in Ordnung. Man könnte es sogar lieb haben, wenn man sich arg Mühe gäbe.“ Es wäre dann Liebe aus Respekt. Aus demselben Respekt, den ich ihnen auch entgegen bringe, den grünen Wildschweinen, gerade darum, weil sie Wildschweine sind.

In diesen Gedanken versunken waren meine Augen immer noch auf den entwurzelten Sämling gerichtet. Inzwischen hatte die Brise mehrfach das ein und andere Würzelchen bewegt. Ich stand auf, wischte unwirsch den Popoabdruck auf dem Moos raus und grinste, weil ich erahnte, wie ganz viele Moosgnömchen den Kopf duckten und dabei wild rummooserten.