Frau Holle

Ohne den Blick abzuwenden, rief ich jauchzend: „Guck mal! Blüten! Zum ersten Mal!“ Während mir näher erläuternde Worte entfuhren wie einem plätschernden Gebirgsbächlein prickelndes Nass, zählte ich die Blütenstände, verstummte und sah schließlich leicht irritiert auf. Der Nichtgärtner war offensichtlich schon seit längerer Zeit nicht mehr da, wo er vorher war, und das einzig mögliche Wesen, das mich hätte hören können, war meine taube Hündin. Mit lächelnden Schlafaugen lag sie im Schatten und träumte vermutlich vom Schlafen. Auch gut. Als Guckpartner wäre sie eh nur bedingt geeignet gewesen.

Aber immerhin habe ich noch euch.
Die Blütenfreude hing und hängt immer noch am schwarzlaubigen Holler, genannt „Black Beauty“. Wer in etwa so alt ist wie ich und damals einen Fernseher hatte, hört bei diesem Namen unweigerlich ein schnaubendes Wiehern. Mit ganz viel Fantasie könnte man beim etwas schrulligen Habitus dieses meines Holunders eine Picasso-Pferde-Silhouette erahnen und überhaupt. Ich mag Pferde, ich mag meinen Holunder, er darf von mir aus auch wiehern. Zu mir oder eher über mich gekommen ist er in einem Fremdgarten, in dem ich viel Schönes sah, aber am Schönsten kleben blieb. Mitten in einer Minirasenfläche stand ein Zwergchen von anmutigster schwarzer Schönheit und auf meine Nachfrage, was, bitte sehr, dieses unglaubliche Wahnsinnsding sei, erhielt ich die profane Antwort: „Schwarzlaubiger Holunder. Ausm Gartencenter. Ist, seit ich es gekauft hatte, keinen Zentimeter gewachsen. Aber schauen Sie mal dort, da habe ich eine …“
„Der … ist …“, stammelte ich, „… schön. Ob ich vielleicht einen Steckling …?“ Mein Gegenüber grinste breit – Gärtner erkennen diese stammelnden Blicke auf Anhieb: „Aber klar doch, nur zu!“ Taumelnd, aber behutsam schnitt ich drei kleine Stecklinge – wie Frevelei kam es mir vor, dem Mickerding auch noch was wegzunehmen, aber immerhin war es eine Frevelei der dankbaren Sorte.

Die drei wurzelten problemlos, wurden eingetopft und zweifach weitergeschenkt. Meinen einen Hengst setzte ich wagemutig in die Schattenprärie. Machen wir’s kurz: Es war ein Zittern und Bangen, Schneckenschleim gegen Ohnmachtshoffnung, Gutzureden und Nüsternstreicheln. Aber tief in seinem Herzen war er ein Holunder. Die sind, so lautet eine meiner ersten Gartenlektionen, nicht totzukriegen. Zum Glück. Nachdem ich jahrelang mit allen Mitteln einen kommunen Holunder zu eliminieren versucht (ausgraben ging nicht, weil im Wurzelfilz eines nicht zu tötenden ehrwürdigen Gehölzes) und dies irgendwann aufgegeben hatte, las ich kurz darauf, dass (ich zitiere nun aus dem Gedächtnis) „wer es wage, einen Holler zu fällen, mit dem Tode eines Familienmitglieds bestraft würde“. Potztausend. Dasselbe gelte, wenn er von selber dahinsieche – der Holunder. Ich rannte runter zum misshandelten Teil, verbeugte mich entschuldigend und meinte: „Ok. Kompromiss. Ich werde dich relativ radikal beschneiden, aber dafür darfst du weiterhin hier verweilen.“ Er hat eingewilligt.
Inzwischen ist ein Familienmitglied gestorben, aber ich weise diesbezüglich jegliche Schuld von mir: Dem Kommunen geht es über alle Maßen gut. Und den drei anderen Normalen ebenfalls.

(Herrgott. Eigentlich wollte ich über Stecklinge schreiben.)

Das Zeug ließ mich nicht los. Ich googelte, las in alten und neuen Büchern und wollte es genauer wissen: Was hatte dieser Strauch sonst noch so Holuwundriges an sich? In manchen Gegenden, so erfuhr ich blätternd, zückten früher die Herren stets den Hut, wenn sie an einem Holler vorbeigingen. Überraschenderweise hatte ich in einem Gespräch mit einem hiesigen Teenager erfahren, dass der Großvater das noch heute, sprich 2011, tat. Aha, dachte ich. Es gibt noch Männer mit Hut.
Aber warum diese Ehrerbietung? Vor einem Löwenzahn gehe ich nicht jedes Mal in die Knie und Holunder sind – da gebt ihr mir sicherlich recht – fast so ausbreitungsfreudig.

Nicht, dass ich etwas gegen sie hätte. Am richtigen Ort gefallen mir auch die Grünlaubigen ungemein. Es hat sich über die Jahre hinweg sogar eine Nick-Tradition eingeschlichen, die ich recht lange als „Walpurgisnacht-Dingsdongs“ betitelt hatte. Immer zum 31. ging ich mit den Hunden den einen Waldrandweg entlang und sammelte Blütendolden, um sie zu Sirup, Sekt oder Trockengut zu verwandeln. Bis ich feststellte, dass die Waldburga bei mir mit steter Regelmäßigkeit einen Monat zu spät gekommen war. Es war – so humorvoll ist das Leben – am selben denkwürdigen Tag, als mein Nichtgärtner rausfand, dass sein Sitzplatz-Norden eigentlich ein Westen ist. Wir waren damals beide etwas erschüttert.
Das Schicksal war mir aber holder, denn kurz darauf las ich mir an, dass im Holler eine weithin bekannte Märchenfrau wohne, und namste ungerührt um. Mein Holunderblütendoldensammeltag heißt seither „Frau-Holle-Tag“.

In geschönten Märchenversionen schüttelt die Frau Holle Bettdecken, dass die Daunen nur so schneestieben. In den ursprünglicheren ist sie ein Zwiewesen, das H.R. Giger nicht besser hätte entwerfen können. Mit ihren langen Zähnen und ihrer Unerbittlichkeit gleicht sie eher Hel, der nordischen Göttin des Totenreichs. Frau Holle, die dickliche, rotwangige Gutmenschin und Oberhausfrau gebietet über Tod und Leben? Das musste ich erst verdauen.

(Ach, pinkel der Hund drauf, ich lass das mit den Stecklingen.)

Ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber „Frau Holle“ war nebst dem „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunzel“ schon als Kind mein Lieblingsmärchen. Umso lieblingser wurde es mir nach dem ganzen Herumgelese. Ich hatte ein Fleisch bzw. Grün gewordenes Märchen vor mir. In zigfacher Ausgabe. Nebst den Grünen und dem Black Beauty erfreut mittlerweile auch „Black Lace“ mein Herz. Ebenfalls als Steckling gekriegt und von jemandem, der das da oben bereits wusste.
Heute bin ich in den Niederungen der Schwarzen Spitze gezehenspitzelt, um eine kürzlich gesetzte Clematis heracleifolia nun doch wieder auszugraben, weil zu bedrängt (man pflanze nie im März mitten in ein Staudenbeet, wenn man nicht über ein fotografisches Gedächtnis verfügt) und was habe ich vor meiner Nase? Blütendoldenknospen!
Ein Jahr jünger als das Pferdchen und noch viel gefährdeter durch missliche Umstände befand sie die Zeit offensichtlich für genau richtig. Ich freute mich, wenn auch anders als beim ersten Fund.

Inzwischen hatte sich die schlafende Hündin verabschiedet.

Dass Hel gerade jetzt mit unerwarteten Blüten kommt, ist Trost und Wachrütteln zugleich. Es geht weiter und erfreut sich allenthalben am prallen Leben und … könntest du bitte mal wieder in den Hollerecken ernsthaft jäten?
Ja.
Grummelbrummel.

 

Für Fuchur, die seit der Stunde Null miterlebt hatte, wie dieser Garten entsteht, und nun vermutlich Garm – Hels Wachhund – noch ein Weilchen lang die Meinung geigt.

1 Kommentar

  1. Ein wiehernder Holunder. Ich sehe schon, wie du auf ihm tollkühn dem Sonnenuntergang entgegen reitest. Ihm Worte ins Ohr flüsterst. Als Holunderflüsterin sozusagen. Ein kleiner Tagtraum, der rasch schwindet. Du bist in deinem Garten, erfreust dich laut an der blühenden Pracht. Niemand hört dir zu. Es ist schattig. Eine Schattenprärie, der Sonne fern. Der Holunder kann sich höchstens nach der Sonne ausrichten, nicht mit dir dem Sonnenuntergang im Westen nach. Stattdessen ist die todmüde Hündin in deiner Nähe, taub und im Schlaf versunken. Du warst zu anderen Holunder-Pflanzen vernachlässigend, ja sogar brutal. Dein Gewissen schaltet sich ein, also du liest, was dir blüht, wenn ein Holunder eingeht.

    Mit düsteren Vorahnungen eilst zum Holunder, den du beinahe eliminiert hättest, bittest ihn um Entschuldigung. Er antwortet nicht. Schliesslich ist er eine Pflanze ohne Stimmbänder und nicht ein wieherndes Pferd. Kein Problem für dich, du siehst es ihm an, dass er einwilligt. Du bist schliesslich Pflanzenversteherin. Die Sonne ist schon längst hinter dem Horizont verschwunden. Deine Gedanken kreisen um den Tod. Deine tiefsten Ängste projizierst du auf das leidende Gewächs, dass seine besten Zeiten gesehen hat. Herren, die den Hut zücken, wenn sie an einem Holunder vorbeikommen, lassen den Holunder immer menschlicher erscheinen. Der lädierte Holunder wird zu einem Familienmitglied, da er dessen Tod herbeiführen kann, wenn du dich nicht genug um ihn kümmerst.

    Zu spät. Es passiert, was passieren muss. Frau Holle tritt als Holunder bewohnende Sensefrau, die über Leben und Tod richtet, auf. Sie hat zugeschlagen und wird damit wieder zu einer gefährlichen Hel. Hinter all deinem Witz lauert Trauer um ein verstorbenes Familienmitglied, so wie die Gutmenschin Frau Holle in Wirklichkeit die über Tod und Leben gebietende Hel verkörpert. Dramatisch mit schwarzem Humor aber wegen der Leichtigkeit, die du deinem Text via Wortwitz einhauchst, auch sehr menschlich, real.

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