Auf leisen Sohlen

Eines Morgens wird im Autoradio davon geredet, dass heute der Herbst ganz offiziell angefangen habe. Ich denke mir: „Aha, der Herbst ist da. Gut, dass man mir das mitgeteilt hat“, und lebe weiter wie bisher.
Etwa drei Wochen später höre ich dasselbe und denke mir: „Aha. Die hatten sich geirrt. Jetzt aber: Der Herbst ist da“, und lebe weiter wie bisher.
Und dann kommt der Moment, in dem ich frühmorgens die Küchentür öffne, kurz innehaltend fröstle, den Napf auf den Boden setze, schnell die Tür hinter dem Tier schließe und mir denke: „Aha. Jetzt isser da.“

Der Unterschied zwischen meteorologischem, astronomischem und nickschem Jahreszeitenwechsel ist vor allem der: Ich hatte irgendwie nie so recht begriffen, wozu die ersten beiden sein sollten, warum es zwei davon braucht, zumal bereits einer überflüssig ist und wie man überhaupt auf diese Daten kam und kommt.
Auf der Suche nach einer Antwort wurde ich zwar nur teilweise erhellt, fand das Gefundene aber allemal interessant:

Der meteorologische Jahreszeitenwechsel ist anscheinend für das gemeine Volk gedacht, das gerne handfeste Zahlen hat. So dauern seinem simplen Prinzip gemäß alle Jahreszeiten drei kalendarische Monate. Vom 1. September bis zum 30. November wäre es also der Herbst und das zuverlässig jedes Jahr aufs Neue.
Gut, das war jetzt etwas flapsig und unfair. Tatsächlich ist die Grundlage dieser Einteilung eine berechnete und hat mit dem Einfallswinkel der Sonnenstrahlen zu tun: Je steiler sie strahlen, desto Sommer, und u.s.w. Egal, ob und wie lange sich Nebel, Regen oder irgendeine Wolke dazwischenschiebt oder eben auch nicht.

Der astronomische Wechsel hat mit Sternenzeugs, Umlaufbahnen und Physik zu tun, ist objektiv, unerschütterlich und so wissenschaftlich, dass er richtig sein muss. Als Orientierung dienen ihm die Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen. Anders als sein einfach gestricktes Pendant kommt er nicht jedes Jahr zur genau selben Zeit, aber im Schnitt etwa drei Wochen später als ebenjenes. So begann der diesjährige Herbst am Mittwoch, den 23. September, um 10:21 und wird am Dienstag, den 22. Dezember, um 05:48 dem Winter weichen.

Als exemplarisches Element des gemeinen Volkes täte mir der meteorologische besser passen, aber er bringt mir genau so wenig wie der zweite. Wär mir ja schon noch schöner, wenn mich just an diesem Tag und im schlimmeren Fall exakt um diese minütige Uhrzeit das Saisonwechselgefühl zu ereilen hätte. Umso mehr, als sich ja das Wetter auch nicht immer dran halten möchte. Da kann es hundertmal der erste oder dreiundzwanzigste September sein, wenn altweibriges T-Shirt-Wetter herrscht, dann ist noch nicht Herbst. Punkt.
(Und wenn wir schon dabei sind: Am 22. Dezember ist bei mir in der Regel schon seit Wochen Winter, auch nach fünf Uhr in der Früh.)

Mein eigener Herbstbeginn ist weder be- noch errechnet, weist von Jahr zu Jahr beträchtliche Datenschwankungen auf und gründet nebst dem Wetter letztlich nur auf dem einen Moment: Wenn ich mir selber nicht nur eingestanden habe, dass ich mir neue Tagesrituale zulegen muss, sondern das auch tue.
Diesbezüglich neige ich zu verstörend störrischem Eigensinn.
Bis vor kurzem steckte ich bis über die taunassen Turnschuhe noch tief in den Sommerritualen, ungeachtet der offenkundigen Unsinnigkeit. Erstens bin ich keine Sommeranbeterin und zweitens liebe ich den Herbst. Trotzdem erinnerte es sich in mir an den Juli, wehmütig:

Um halb sieben morgens machte ich mich jeweils an die Arbeit und versuchte im leichten T-Shirt und der ebenso leichten Arbeitshose eine leise Erinnerung ans Frösteln zu wecken. Versonnen, zufrieden und dem Schnatterschnattratt und Kickkeckerkick der frühen Vögel lauschend jätete ich und schnitt Verblühtes. Mitten in einer angefaulten Dahlienblüte steckte eine Hummel und schien verschieden zu sein. Zögernd stupste ich sie mit der Felcospitze an, träge bewegte sie eines ihrer Hinterbeine. Belustigt ließ ich sie weiterdösen und betrachtete sie von Nahem. Zum ersten Male hatte ich eine schlummernde Hummel erblickt. Den Popo nach außen gekehrt, die zwei pollenvollen Hinterbeine knapp entblößend, erinnerte sie mich an eine opiumgeschwängerte Kurtisane.
Und sie war nicht allein. In jeder vierten Blüte steckte so ein lasterhaftes Wesen. Und dies mitten im Klostergarten. Herrlich!
Ich schlich mich an ihnen vorbei, um sie ja nicht zu erwecken und schnibbelte – leise, pssst –, kämpfte stumm mit dem störrischen Schlauch, wässerte flüsternd bergbachquellig und freute mich jetzt schon auf den langen lauen Abend draußen am Gartentisch.

Irgendwann waren sie weg. Die Kurtisanen. Und das Keckertrilleri. Und um halb sieben morgens war es kalt und dunkel. So dunkelkalt, dass mich die Velociraptorinnen in stumm-empörter Aasgeierhaltung anblickten, als ich eine halbe Stunde später die Stalltür öffnete und reinposaunte: „Na, Mädels? Bock auf Schneckeneierjagd?“

Velociraptorinnen sind meteorologisch. Die wissen, wann des Herbstes Glocke geschlagen hat und wundern sich – leicht genervt – über das Menschengedöns, das so tut, als wär noch Sommer. Es ist ihnen nicht zu verdenken. Die müssen ja nicht pflanzen, setzen, stecken, hoffen. Und die müssen sich nicht anders kleiden.

Falsch. Müssen sie. Sie tun’s gerade. Alle fünf Hennen wissen nix Besseres zu tun, als sich für die Pariser Herbstmesse zu entkleiden. Und darum keine Eier mehr zu legen. Nicht übel, dieser Trick. Nächstens, wenn mir was in die Quere kommt, schreibe ich einfach: „Nächstens gibt es keine Texte mehr. Bin in der Mauser.“

Mausern tät ich gerne. Einmal pro Jahr gäbe es eine Riesensauerei – immerhin wäre ich ein recht großes Huhn –, dafür hätte ich die ganze restliche Zeit über Ruhe und müsste bei den beiden Äquinoktien nicht immer vor dem vollen Schrank rumnölen, ich hätte keine Kleider. Also schon, aber nur welche fürs vorherige Halbjahr. Und das jedes Jahr. Rein logisch geht das nicht auf, das habe ich mir schon mehrfach selber gesagt, nur geholfen hat es nichts.
Man könnte jetzt meinen, ich täte gerne Kleider kaufen und sähe das Problem als willkommene Aufforderung, hemmungslos zu shoppen. Tu ich aber nicht, im Gegenteil. Ein Graus ist es mir.
Wie auch immer, das Ganze hängt mit meiner störrischen Ritualtreue zusammen und macht die herbstliche Saisonwechselei nicht wirklich einfacher.

Der nicksche Herbstanfang in diesem Jahr war so um Anfang Oktober rum. Morgens war das Frösteln und Türezureißen, abends setzte ich mich auf die Hühnerbank und fing die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ein.
So saß ich da, schaute von unten in die Kirsche, von der Seite in die Hainbuchen- und Ligusterhecke und von oben auf den Rasen. Sattes, saftiges, vor Leben strotzendes Grün umfing mich, als wäre ich mitten in Irland. Die Winterzwiebeln vor mir waren schon allesamt ausgetrieben, streckten frohgemut ihre knackig-frischen Schlotten in die Höhe und schienen geschlossen die Knoblauchzehen anzufeuern, die zaghaft zu treiben begannen. Nur die Schalotten schienen noch in tiefem Schlaf, aber es vibrierte merklich in ihren Zwiebelchen. Lüstern kroch die Hängemaulbeere mit ihren längsten Trieben am Boden entlang und schien die runden Dösenden kitzeln zu wollen.
„Schlag mich tot, aber es ist Frühling!“ dachte ich. „Doch. Oder?“

Während ich die rasigen Grashalme vor meinen Füßen studierte und mich dafür schalt, sie nicht öfter zu bewundern … ist doch wahr. Da gehört jetzt wirklich ein neuer Satz hin. Nur weil überall Rasen wächst und weil er es brav tut, heißt das noch lange nicht, dass er selbstverständlich ist. Also: Dank euch, ihr Hälmchen!
Ich studierte also, schalt und merkte:
Da fehlte was.

Es war nicht das Fehlen von Geräuschen, denn die gab es. Die Bise, der schweizerischste aller Winde fegte heftig und rauschend durch die Blätter. Es herrschte keine Stille, aber es war Ruhe. Eine Ruhe, die nur der Herbst hinkriegt.
Die Nachbarn saßen alle in ihren geheizten Häusern, die Vögel, die nicht in den Süden ziehen mochten, schlummerten vermutlich wie meine mausrigen Nichteierleger, die Kirsche hatte nicht viel zu erzählen und der Rest des Gartens schaute mich wohltuend stumm an. Weit weg fuhr ein Auto vorbei, ein Militärflugzeug drehte seine Übungsrunden, aber die rauschende Bise und das Blätterdach schluckten so viel, dass ich nur ein leises Summen vernahm. Wenn ich mich anstrengte.

Genau dieses Nichtanstrengen gehört zum Herbst wie die Preiselbeere zum Rehrücken. Ich sah durch den Zaun auf mein eines Staudenbeet und sah Grün. Und Farben. Viele. Aber nichtanstrengende.

Der Herbst ist der leise Bruder des Frühlings. Endlich ist er wieder da.

6 Kommentare

  1. “Der Herbst ist der leise Bruder des Frühlings.” So wird mir der Herbst richtig sympatisch – wenn man ihn in der Familie behält! Wunderschön!

  2. Oh Nick, was hatte ich so viel nachzulesen. War im Garten früh bis spät( bin immer noch nicht fertig!) War im “befreundeten Ausland”( auch kurz in der Schweiz) also d.u. dauernd unterwegs. Nun sind Herbstferien und man hat mir 4 Enkelinnen 7 ,6 und 4 Jahre alt aufs Auge gedrückt, der Garten muss warten, wie so vieles andere auch. Das GH muss noch dringendst eingeräumt. Ich warte auf ein Wunder für meinen durch einen Reiher leck gepickten grossen Teich( bei dem ich das Loch noch stehts nicht gefunden habe) und jeden Tag wird es usseliger…. eigentlich wollte ich noch eine letzte Ausfahrt machen( verdeckfrei an den Rhein für 3 Tage, aber das Wetter sagt : Nein.
    Der Waal führt Niedrigwasser, aber der Garten “suppt”. Irgendwie kein goldener Oktober, eher nasse Nebelsuppe. Die Ahornallee am Anfang unseres Dorfes wird dieses Jahr schön rot,( das ist nicht immer so) wenigstens etwas. Wenn der Oktober so verregnet ist ,wird es hier triest; denn wirklich schönes Wetter gibt es dann erst wieder im März. Schnee sowieso nicht und tolle Raureifwinter vermisse ich schon jahrelang. Nein, das wird nun kein Herbstblues , aber ein bisschen mehr Herbstsonne würde ich mir schon wünschen. Das nasskalte Wetter geht in die Knochen!!!! Einziger Vorteil, man kommt wieder zum Lesen!

    1. Mein Schreiberherz freut sich, wenn du zum Lesen kommst.
      Dass es solche triste Umstände sind, die dich dazu bewegen, aber eher weniger.
      Was soll ich sagen: Enkelinnen zu haben ist doch schon mal eine Freude. Und einen Garten zu haben ebenso.
      Und wenn du dich das nächste Mal in der Schweiz rumtreibst, dann schau mal kurz bei mir vorbei. Dein eigener Garten wird dir danach vorkommen wie das Paradies auf Erden.
      (Ich wünscht, ich hätt den Platz für ein GH!)

  3. Ich mag ja alle Jahreszeiten. In meiner Gegend sind das Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter.
    Aber ich habe Bekannte in Gegenden, die an Jahreszeiten nur Frühjahr, Sommer, Herbst und Werbst kennen.

  4. Werbst….ein geniales Wort

    Lange war hier auch Werbst.
    Erst wollte es aber nicht mal Herbst werden. Die Bäume waren sehr lange noch grün und erst so gaaanz langsam fingen sie an sich zu verfärben. Fallen lassen wollten sie ihre Blätter aber auch nicht. Man dachte immer, nun muss es aber losgehen, denn bald stehen die Container (nur für einen Vormittag) und dann möchte man wenigstens das Eichenlaub loswerden. Aber es tat sich nicht viel. Und dann kam im Oktober einmal kurz ein leichter Bodenfrost und dann gings los. Es herbstelte nun doch richtig mit fliegenden Blättern.
    Aber dann wurde es wieder warm.
    Wir hatten tatsächlich einen schönen Herbst mit Sonne und auch noch wärmeren Tagen. Komischerweise dachten die Vögel hier aber, es wäre wieder Frühling. Die Bäume dachten es auch.

    Dieser Herbst war wohl mal von der etwas lauteren Sorte 😉

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